Liebe Leserin, lieber Leser!
Ich habe es gut gehabt. Als ich in die zweite Klasse der Waldorfschule The New School in Kings Langley nördlich von London kam, hatte ich für die folgenden sieben Jahre einen lebenspraktischen, robusten Klassenlehrer: John Wells. Bevor er die Anthroposophie Rudolf Steiners kennengelernt und sich für den Beruf des Lehrers entschieden hatte, war er als Gemüseanbauer tätig gewesen. – In den elf Jahren, die ich bis zur Hochschulreife in der zwölften Klasse auf dieser «Steiner School» verbrachte, hatte ich überhaupt mit vielen Lehrern zu tun, die zuvor einen anderen Beruf ausgeübt und somit viel vom Leben außerhalb der Schule erfahren hatten.
Ab der dritten oder vierten Klasse nun bot mein Klassenlehrer an, an den schulfreien Samstagvormittagen klassenübergreifend Fußball zu spielen. Und so spielten wir Jungs in wechselnder Besetzung bei Wind, Regen, Frost oder Sonnenschein jeden Samstag leidenschaftlich Fußball – und Mr. Wells war unser Schiedsrichter. Das Fußballspielen war für mich als Kind, das muss ich schon zugeben, meine liebste Art der Bewegung. In den damals noch großzügigen Pausen spielten wir auf dem Schulhof sogar mit einem Tennisball Fußball. Und nach der Schule traf ich mich oft mit meinen Klassenkameraden im benachbarten Park, um Fußball zu spielen. Noch heute spüre ich, wenn ich an einer Wiese oder einem Spielfeld vorbeigehe oder -fahre, auf dem eine Schar Kinder oder Männer ohne besondere Montur Fußball spielt, dass ich am liebsten sofort mitspielen möchte.
Diese Mischung aus individueller Geschicklichkeit und Mannschaftsgeist, Taktik und Athletik, wenn mit den Füßen oder dem Kopf der Ball gespielt wird, während die Hände und Arme die Balance schaffen, ist eine besonders intensive Art, Freiheit und Frieden im Wettkampf zu erleben. Natürlich gibt es auch andere Formen von Bewegung, mit denen sich ein Mensch vielleicht noch beseelter und geistiger mit seinem Leib einig fühlen kann: beim Tanz zum Beispiel. Und neulich, als ich anlässlich der international wichtigsten Kinderbuchmesse in Bologna war, konnte ich erleben, wie schön auch der Tanz Menschen in Bewegung bringen und eine Stimmung von Glück und Frieden erschaffen kann. Auf der Piazza Maggiore, dem größten Platz mitten in der Stadt, hatten sich spät abends viele junge Menschen unterschiedlichster Herkunft versammelt und tanzten zu freien Klezmer- oder Volksmusikmelodien und -Rhythmen abwechselnd zu zweit oder im großen gemeinsamen Reigen. Auch da kann ich, wie die Flüchtlinge in unserer Reportage aus Bremen, sagen: «Wenn du wissen willst, wer ich bin / dann schreib dich in meinen Rhythmus ein.»
Wie schön ist es, ob im Tanz, beim Fußball oder auch sonst im Leben, einen Menschen zu finden, mit dem man den eigenen Rhythmus teilen kann!
Auf dass wir dieses Glück immer wieder erleben dürfen, grüßt von Herzen
in den Wochen der Fußball-Europameisterschaft, Ihr
Jean-Claude Lin