Liebe Leserin, lieber Leser!
Zuweilen habe ich mich dabei ertappt, anders sein zu wollen, als ich es bin. Als junger Teenager wollte ich, wohl dem Beispiel meines Vaters folgend, Maler sein. Er schaute gelegentlich bei einem Besuch auf meine arg surrealistischen Bilder und meinte mit seinem an der abstrakten Kunst eines Mondrians geschulten Auge: «Good, get it out of your system.» Was so viel hieß wie: «Werd’s los.» Später, als ich aufs Abitur zuging, wollte ich wie James Joyce schreiben, zumindest Dichter und Schriftsteller werden. Immer wieder haderte ich damit, dass meine Talente und Fähigkeiten nicht dazu ausreichten, eine wirklich künstlerisch schöpferische Natur zu sein.
Eines Tages las ich zum wiederholten Male ein schmales Bändchen Rudolf Steiners, Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen in «acht Meditationen», an dem er im August des Jahres 1912 geschrieben hatte und in dem er einige weitreichende Fragen der Selbsterkenntnis und intime Erfahrungen der geistigen Entwicklung erörterte. In der «sechsten Meditation» über das Ich hielt ich lange bei dem folgenden Satz inne:
«Ein intensives, wiederholtes (meditatives) Zusammenleben mit dem Gedanken, dass es in vieler Beziehung für den Gang des Menschenlebens doch gleich ist, ob man selbst, oder ob ein andrer etwas kann, vermag weit zu führen in Bezug auf wahre Gelassenheit gegenüber dem, was man als innerstes Lebensschicksal empfindet.»
Ich fühlte unmittelbar, inzwischen als Mittvierziger und mit etlichen Jahren Erfahrung als Verlagslektor und Verleger, die Wahrheit dieses Satzes. Es ist für die Menschheit in vieler Beziehung nicht entscheidend, wer ein bestimmtes Werk zustande bringt; entscheidend ist, dass es zustande kommt – und dass es wahrgenommen und mit ihm gelebt wird.
Im Nachsinnen auf mein Leben taucht hin und wieder ein Gespräch mit einem geschätzten Geschichtslehrer von mir auf, von dem ich auch zum ersten Mal und sehr eindrücklich über das Schicksal von Kaspar Hauser hörte. Ich hatte ihn aufgesucht, weil ich in meinem 21. Lebensjahr dabei war, mich zu fragen, ob ich mein Sinologie-Studium zugunsten einer sozialen Arbeit abbrechen sollte. Er, Norman Davidson, ein Schotte, der viele Jahre als Taxifahrer und Journalist gearbeitet hatte, bevor er Waldorflehrer wurde, sagte mir: «Jean-Claude, es kann gut sein, dass du nicht Schriftsteller wirst, aber du wirst es später doch mit dem geschriebenen Wort zu tun haben, vielleicht als Herausgeber eines Magazins.»
Im 17. Jahrgang und bei der 200. Ausgabe dieses Lebensmagazins a tempo bin ich unendlich dankbar, dass das Leben mich mit solchen Lehrern in Verbindung gebracht hat und dass ein Unternehmen wie dm-drogerie markt es durch die schöne Zusammenarbeit und den kreativen Austausch möglich macht, dass unser Lebensmagazin a tempo so vielen Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht wird und erhalten bleibt.
Von Herzen grüßt Sie, Ihr Herausgeber
Jean-Claude Lin