Liebe Leserin, lieber Leser
Vieles kann gelernt werden im Leben: am grundlegendsten im frühesten Kindesalter das Sich-Aufrichten und Gehen, das Sprechen und schließlich das Denken, wenn uns allmählich und schlagartig bewusst wird, dass, wenn wir einen gefüllten Becher in der Hand umdrehen, die enthaltene Flüssigkeit dann herausfließt. Früher oder später lernen wir Fahrradfahren, eine oder gar mehrere Fremdsprachen und die Mitternachtsformel beim Lösen von quadratischen Gleichungen anzuwenden. Selbst das wirklich praktische, schöpferische, einfallsreiche Denken kann gelernt werden. Der an Goethe und Hegel sich selbst schulende, einstweilig an der Wiener Technischen Hochschule studierende Rudolf Steiner nannte später als Anthroposoph «drei Zaubermittel» für die Ausbildung des praktischen Denkens:
1. Lerne so viel wie möglich, Interesse für die Gegenstände und Tatsachen des Lebens zu haben.
2. Lerne, Lust und Liebe an allem eigenen Tun zu entwickeln.
3. Lerne, innere Befriedigung an der ruhigen Tätigkeit des Denkens,
an der von allem Druck des Lebens befreiten inneren Reflexion zu empfinden.*
Doch wie lässt sich diese «Lust und Liebe» tatsächlich entwickeln? Wie könnte Fatih Akin sich die «Lust und Leidenschaft» fürs Filmemachen bis ans Lebensende erhalten, die er sich so sehnlichst wünscht? Überhaupt, lassen sich Gefühle bewusst aneignen? Wie lernen wir lieben?
So viel geschieht in unserer Welt aus Hass, bricht zuweilen gewalttätig hervor aus Ohnmacht und Verzweiflung und wütet, sich und andere mordend und zerstörend. Genügt es, auf die kleinen Handlungen unseres Alltags zu achten? Oder brauchen wir die großen Perspektiven, die jede kleine Handlung in einen größeren Sinnzusammenhang zu setzen vermögen?
Mit Lust und Leidenschaft die Welt verstehen lernen, sich selbst erkennen wollen – das könnte ein begehbarer Weg zu mehr Frieden und Liebe in der Welt sein. Ohne Lust und Liebe sind wir rein gar nichts. Mögen wir lange noch auf dieser Welt mit Lust und Leidenschaft leben!
Von Herzen grüßt Sie, Ihr
Jean-Claude Lin