Wandeln im Erkennen

Nr 202 | Oktober 2016

Liebe Leserin, lieber Leser!

«Jede Erkenntnis wandelt den Erkennenden», bemerkte der deutsche Ingenieur und Philosoph Carl Unger, als er anfing, den neuen und letzten Versuch Rudolf Steiners, die Grundlagen einer geistigen Anschauung der Welt und des Menschen, der Anthroposophie, in einer Reihe von wöchentlich veröffentlichen «Leitsätzen» darzustellen, selbst zu bearbeiten und sich anzueignen. Am Ende der durch den frühen Tod Rudolf Steiners am 30. März 1925 Fragment gebliebenen 185 «Anthroposophischen Leitsätzen» kam Carl Unger im Lauf seiner 78 Betrachtungen zur Formulierung eigener, in Kernsätzen verdichteter Einsichten über das Wesen des Menschen und seine Entwicklung. «Jede Erkenntnis wandelt den Erkennenden» ist der erste seiner Kernsätze. Den letzten formuliert er in einem 115. Satz – nur kurze Zeit vor dem eigenen Tod am 4. Januar 1929, als er beim Antritt zu seinem Vortrag über die Frage «Was ist Anthroposophie?» in Nürnberg mit vier Kugel aus einer Pistole niedergeschossen wurde. Dieser letzte Erkenntnissatz lautet: «Jede Erkenntnis wandelt das Erkannte.»*
Über viele Jahre war mir dieser Satz nicht einsichtig. Für eine bloß materielle Anschauung der Welt stimmt er einfach nicht. Nicht Erkenntnis wandelt die erkannte Welt, sondern das Handeln daraus. Blicken wir aber nicht auf eine Welt der Gegenstände und des Bewusstseinslosen, sondern auf Wesen, die mit Bewusstsein und Selbstbewusstsein begabt sind, so ergibt sich eine ganz andere Perspektive. Für ein mit Bewusstsein und Selbstbewusstsein begabtes Wesen ist es überhaupt nicht gleichgültig, ob es von einem anderen Wesen wahrgenommen und erkannt wird.
Im zweiten Roman unserer niederländischen Gesprächspartnerin Erna Sassen, Komm mir nicht zu nah, bringt die jüngere Schwester Reva dies in einem ihrer unzähligen nächtlichen Mitteilungen an ihre ältere Schwester Marjolijn wunderbar griffig auf den Punkt: «Wie ein Buch seine Existenzberechtigung von der Tatsache herleitet, dass es gelesen wird, und eine Theatervorstellung dank des Publikums, das sie sich ansieht, so habe ich das Gefühl, nur dann ein Teil der Welt zu sein, wenn ich einen Zeugen dafür habe. Jemanden, der, wenn es nötig ist, zu mir sagen kann: Aber ja, ich habe dich gesehen, dich gibt es auch!»
Zum Leben brauchen wir Menschen die Wahrnehmung des eigenen Selbst durch andere. Und weil die Welt nicht nur materiell ist, sondern auch geistig, wartet sie auf den Menschen, in ihrem Wesen erkannt zu werden. Das ist ihr nicht gleichgültig, sondern wesentlich zu ihrer eigenen Entwicklung. – Werden wir Wandelnde im Erkennen!

Von Herzen grüßt Sie im Monat der Frankfurter Buchmesse,
Ihr

Jean-Claude Lin