«Lesen beginnt nicht mit Buchstaben», schreibt der leidenschaftliche ehemalige Lehrer Henning Kullak-Ublick in seinem Essay für unser Jahresthema über die Kunst des Lesens. «Lesen beginnt nicht mit Buchstaben, sondern mit den Ohren.» Wie wahr diese Beobachtung ist, habe ich selbst als Zweitklässler erlebt. Als mein Klassenlehrer uns Schülern in der für mich neuen Waldorfschule, der New School in Kings Langley nördlich von London, die Abenteuer vom Königssohn von Irland Tag für Tag erzählte, da habe ich mir dann das Buch von Padraic Colum kaufen wollen, um selbst die Geschichte nach- und weiterzulesen.
Viele Jahre später, inzwischen Verleger geworden, der für seine verlegten Bücher hoffte, ebenfalls eifrige, leidenschaftliche Leser finden zu können, las ich den Erstlingsroman von Peter Carter: Madatan. Wieder zog mich eine Geschichte ganz in ihren Bann, sodass ich auch dieses Buch, nun für den deutschsprachigen Raum, erwerben wollte. Besonders eine Passage in dieser an äußeren wie inneren Erschütterungen reichen Geschichte erklang in mir wie der tiefe, anhaltende Ton einer Kirchenglocke:
«Als Madatan zu lesen anfing, begann er die Weite der Welt zu verstehen, er begriff, dass sie eine Geschichte hat, die weit, weit zurückreicht. Und weil er den Druck der Vergangenheit spürte, bekam er allmählich ein paradoxes Gefühl des Freiseins von der Gegenwart. Denn die Vergangenheit wies in die Zukunft, und die Zukunft gab der Gegenwart Bedeutung und Sinn. Er wurde ein Schüler, ein Lernender.»
So fand ich das von Kindheit an durch die vielen Geschichten, die mein Klassenlehrer uns erzählte, und beim eigenen Lesen gefühlte Erlebnis in wunderbar erhellenden Gedanken zum Ausdruck gebracht: dieses «Freisein von der Gegenwart», oder, wie Elisabeth Weller es in unserem Gespräch nennt: dieses «Schweben» in einem sich immer neu bildenden «Freiraum». – Und ob man die obige Überschrift innerlich ohne oder mit Kommata liest, mag auf einen tiefer liegenden Zusammenhang hinweisen: dass es das Wort ist, das uns über das Geheimnis der Trinität, der Dreieinigkeit, aufklären kann. Mögen wir wie Madatan immerzu Lernende werden!
Von Herzen grüßt Sie, Ihr
Jean-Claude Lin