Liebe Leserin, lieber Leser
Welch ein Wunder ist das Leben! Im äußersten Nordosten des Départements Gard, am rechten Ufer der Rhône, an der Grenze der Provinzen Languedoc und Provence liegt die zehntausend Seelen zählende Gemeinde Pont-Saint-Esprit mit einer der beeindruckendsten Brücken Europas, die in den Jahren 1265 bis 1309 erbaut wurde. Dort, in der kleinen Buchhandlung Le Chant de la terre (Das Lied der Erde) entdeckte ich vor einigen Jahren eine Anthologie japanischer Haiku-Dichterinnen mit dem schönen, sinnlichen Titel Du rouge aux lèvres – nicht «Du rouge à lèvres», was einfach «Lippenstift» heißen könnte, sondern mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die rot gefärbten Lippen.
In dieser im Pariser Verlag La Table Ronde 2008 erschienenen und von Makoto Kemmoku und Dominique Chipot herausgegebenen Anthologie fand ich das Haiku der 1977 in Tokyo geborenen Dichterin Yuki Higano, das ich für diesen Monat ausgesucht habe, in der folgenden französischen Übersetzung:
Nous respirons profondément
les fleurs de cerisier
et mon parfum.
Ich malte mir dabei die sehr romantische Szene eines Liebespaares unter einem Kirschbaum aus und wie zwischen dem sich umarmenden Paar der Duft der Kirschblüten sich mit dem Parfum der Frau vermischen würde – denn so lautet ja die deutsche Übersetzung der französischen Übertragung:
Wir atmen tief ein / die Kirschblüten / und mein Parfum.
Von einer japanischen Freundin, Riho Peter-Iwamatsu, erfuhr ich, dass der im Original gesetzte Ausdruck der ersten Zeile shinshinto oft benutzt wird, um die Ruhe und Stille des fallenden Schnees zu beschreiben, und dass nicht von einem «wir» die Rede ist, sondern nur vom «Atem der Kirschblüten» und «meinem Atem».
Bei der Dichterin Yuki Higano fragte ich nach, ob sie mit dem Wort shinshinto tatsächlich den fallenden Schnee im Sinn hatte, was sie verneinte: Mit dem Wort wollte sie nur etwas von der großen Stille und Ruhe und, wie ich aufgrund des Klangbildes hinzufüge, vielleicht unermesslichen Sanftheit ausdrücken.
Im Jahr 2007 erschien ein erster Haiku-Band dieser Dichterin mit dem sprechenden Titel Inori no ten: «Der Himmel der Gebete». Für dieses Jahr ist ein zweiter Band in Vorbereitung. Hier sei sie mit einem eigenen kleinen Versuch bedankt und gegrüßt:
So weiß der Schnee
so rot die Hagebutten
in diesem Leben
Und von Herzen grüße ich Sie ebenfalls, liebe Leserinnen und Leser!
Ihr
Jean-Claude Lin