Liebe Leserin, lieber Leser
Am 7. Mai wurde eine europäische Katastrophe abgewendet. Am Vorabend der Gedenkfeier für die bedingungslose Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands stimmte eine Mehrheit der wahlberechtigten Franzosen für den proeuropäischen Emmanuel Macron als künftigen Präsidenten Frankreichs. Zweiundsiebzig Jahre nach dem Ende eines beispiellosen, aggressiven, Krieg und Zerstörung verbreitenden, exzessiven Nationalismus im Herzen Europas konnten alle, die für ein Gedeihen der europäischen Gemeinschaftsidee sind, aufatmen. Viele europäisch gesinnte Gemüter waren nach dem äußerst knappen Ergebnis des Referendums im «Vereinigten Königreich» für einen Austritt aus der Europäischen Union noch wund. Noch immer ist ein tatsächlicher Austritt Englands, Wales, Schottlands und Nordirlands aus der EU unvorstellbar. Doch ein Austritt Frankreichs, des Mutterlandes der europäischen Freiheitsideale und Menschenrechte, wie Marine Le Pen vom Front National propagiert, würde ungleich schwerer und verstörender wiegen.
Marine Le Pen betont, wie sehr sie Frankreich liebe. Insbesondere liege ihr la France profonde, das «tiefe» Frankreich der kleinen Leute auf dem Land am Herzen. Sie liebe Frankreich, wie es ist, mit seiner Kultur, seinem kulturellen Erbe, seiner Sprache. Wer als Ausländer, der die so unterschiedlichen Regionen und Landschaften Frankreichs bereist, liebt dieses Land und seine Leute nicht?! Und wie könnte man die schönste Hauptstadt der Welt nicht lieben!? Jedes Land hat heute die große, schwierige Aufgabe, die eigenen gewachsenen, aber bedrohten Traditionen zeitgemäß in eine zusammenwachsende globale Zivilisation einzubringen. Das wird aber nur dann möglich sein, wenn sie in Entwicklung bleiben. Auch Traditionen wandeln sich. Am Leben bleiben sie nur, wenn sie aus dem tiefsten Freiheitsdrang des Menschen neu belebt werden. Heute ist das einstige Leben der französischen Existenzialisten Albert Camus, Jean-Paul Sartre oder Simone de Beauvoir im Café Bec de Gaz der Pariser Rue Montparnasse oder dem Café Les Deux Magots am Place St-Germain-des-Prés an vielen Orten der Welt – auch auf dem Land, sogar oft mit gutem italienischem Espresso!
Der Puls Europas schlägt für die Freiheit und die Würde eines jeden Menschen auf dieser Welt. Das sollten wir tief im Gemüt verankern – und unsere Politik danach ausrichten. Denn nur dies kann Frieden schaffen.
Es lebe die Aufklärung und die aus ihr geborenen Ideale Liberté, Egalité, Fraternité: Freiheit, Gleichheit und die Gemeinschaft aller Menschen! Vive la France! Et vive l’Europe!
Von Herzen grüßt Sie in diesem Monat des Sturms auf die Bastille 1789, Ihr
Jean-Claude Lin