Liebe Leserinnen und Leser
An Mariä Himmelfahrt des Jahres 1924, also an einem 15. August, schrieb Leo Perutz in sein Notizbuch: «die Ghettolegende ganz beendet». Am 22. Juli hatte er notiert: «Mit ‹Meisls Gut› begonnen». Weniger als vier Wochen hatte der am 2. November 1882 in Prag geborene Schriftsteller jüdischer Herkunft gebraucht, um die erste der vierzehn Novellen zu schreiben, die schließlich seinen erst neunundzwanzig Jahre später in der Frankfurter Verlagsanstalt erscheinenden Roman Nachts unter der steinernen Brücke ausmachen sollten. Der in Wien als Versicherungsmathematiker Arbeitende hatte bereits mit seinem 1918 erschienenen zweiten Roman Zwischen neun und neun nach Egon Erwin Kisch den «größten Erfolg des deutschen Buchmarkts» feiern dürfen. Und 1928 sollte er mit Wohin rollst du, Äpfelchen … eine noch größere Popularität bei der deutschsprachigen Leserschaft erlangen. Doch 1938 sah er sich nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich durch die Nationalsozialisten zur Emigration gezwungen und kam nach Tel Aviv. Im Exil schrieb er weiter an seinem im goldenen Zeitalter des Prager Judentums beheimateten und um den geheimnisvoll umwitterten Herrscher Kaiser Rudolf II., den legendären hohen Rabbi Loew und den reichen Juden Mordechai Meisl mit seiner schönen Esther handelnden Roman.
«Es ist, wie Sie sehen werden, ein Roman mit einem etwas eigenwilligen Aufbau», schrieb Leo Perutz an seinen damaligen Verleger Paul Zsolnay am 15. März 1951. «Die einzelnen Kapitel sehen aus und lesen sich wie selbstständige Erzählungen, und es dauert einige Zeit, ehe man darauf kommt, dass man Kapitel einer eigentlich ziemlich straffen Romanhandlung vor sich hat, die aber nicht chronologisch erzählt wird. So ist der Beginn der Handlung erst im letzten, dem vierzehnten Kapitel zu finden, während das erste seinen Stoff aus der Mitte der Handlung sich holt. Und doch erscheint diese Anordnung nicht willkürlich, sondern als die einzig denkbare und mögliche.» (Zitiert nach dem Nachwort von Hans-Harald Müller in der von ihm herausgegebenen Ausgabe, die 1988 im Paul Zsolnay Verlag erschien.)
Nachts unter der steinernen Brücke ist nach dem Literaturkritiker Dietrich Neuhaus ein «kaum auszuschöpfendes Meisterwerk». Und: «Einzigartig ist die ästhetische Konzeption dieses Werks, das, sowohl Novellenzyklus als auch Roman, in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts keine Parallele findet», stellt der Germanist Hans-Harald Müller fest, der die Werke von Leo Perutz für eine neue Generation von Lesern zu erschließen versuchte.
Vor 60 Jahren, am 25. August 1957, starb Leo Perutz in Bad Ischl. Mit den letzten drei Sätzen des am 15. August 1924 beendeten ersten Kapitels seines in dieser Form einzigartig konzipierten Novellenromans, setzte Leo Perutz ein geheimnisvolles großes Werk in Bewegung, das heute noch das Gemüt berührt und magisch wirkt:
«In dieser Nacht erlosch die Pest in den Gassen der Judenstadt.
In dieser Nacht starb in ihrem Haus auf dem Dreibrunnenplatz die schöne Esther, die Frau des Juden Meisl.
In dieser Nacht fuhr auf seiner Burg zu Prag der Kaiser des Römischen Reiches, Rudolf II., mit einem Schrei aus seinem Traum.»
Unser Leben mit all seinen Geschichten gleicht in seiner kunstvollsten Ausprägung vielleicht mehr einem Novellenroman als einem Roman.
Ich grüße Sie in diesem August von Herzen,
Ihr
Jean-Claude Lin