Liebe Leserin, lieber Leser!
«Ich bin kein Intellektueller», bekundet der österreichische Kabarettist Robert Palfrader in unserem Gespräch, «aber ich mache mir meine Gedanken.» Und immer wieder sucht er dafür die Ruhe seiner Holzwerkstatt auf. Theodor Storm, der an einem 14. September vor 200 Jahren in Husum geboren wurde, erzählt in seiner allerersten von 58 Novellen, die er veröffentlichte, ebenfalls von einem Menschen, der kein Intellektueller war, sich aber wohl viele Gedanken machte. Marthe und ihre Uhr heißt die Novelle, die erstmals 1847 im Volksbuch auf das Jahr 1848 erschien, bevor sie 1851 zusammen mit Storms zweiter und weitaus berühmterer Novelle Immensee in dessen Band Sommergeschichten und Lieder erschien. Marthe, die unverheiratete Tochter, die nach dem Tod ihrer Eltern und dem Auszug ihrer Geschwister im elterlichen Haus allein wohnt, hat auch ohne höhere Bildung ein elementares Bedürfnis, über Erlebtes und Gelesenes nachzudenken. «Freilich sprach sie nicht immer grammatisch richtig», heißt es in der Novelle, «obgleich sie viel und mit Aufmerksamkeit las, am liebsten geschichtlichen oder poetischen Inhalts; aber sie wusste sich dafür meistens über das Gelesene ein richtiges Urteil zu bilden und, was so wenigen gelingt, selbstständig das Gute vom Schlechten zu unterscheiden.»
Bemerkenswerter noch an Marthe aber ist eine weitere Eigenschaft: «Da Marthe seit dem Tode ihrer Eltern wenig Menschen um sich sah und namentlich die langen Winterabende fast immer allein zubrachte, so lieh die regsame und gestaltende Phantasie, welche ihr ganz besonders eigen war, den Dingen um sie her eine Art von Leben und Bewusstsein. Sie borgte Teilchen ihrer Seele aus an die alten Möbel ihrer Kammer, und die alten Möbel erhielten so die Fähigkeit, sich mit ihr zu unterhalten; meistens freilich war diese Unterhaltung eine stumme, aber sie war dafür desto inniger und ohne Missverständnis.» So kam es, dass sie besonders mit einer altmodischen Stutzuhr, die ihr verstorbener Vater auf dem «Trödelmarkt zu Amsterdam» erstanden hatte, «beredteste Gesellschaft» hielt: «sie mischte sich aber auch in alle ihre Gedanken».
Mitten in der Natur stehend kann es einem manchmal schmerzlich bewusst werden, dass wir unfähig sind, mit ihr Zwiesprache zu halten. Mit einem anderen Menschen kann ich mich unterhalten. Das ist eine Haupteigenschaft des Geistes, dass er sich mitteilen kann, dass er gesprächig ist. Ein Baum, ein Berg, ein Bach spricht zunächst nicht mit mir. Aber nachdenkend bringt Marthe alle Möbel um sich dazu, mit ihr zu sprechen, und besonders gelingt ihr dies mit der alten Standuhr.
Schaffen wir uns denkend beredte Gesellschaft mit allem, was um uns lebt und ist!
Ich grüße Sie von Herzen in diesem September,
Ihr Jean-Claude Lin