Liebe Leserin, lieber Leser
Zu jedem menschlichen Leben gehört die Empfindung, erwartet zu sein. Nicht immer erhält diese Empfindung eine klare Kontur. Viel eher bleibt sie diffus oder entzieht sich gar dem Bewusstsein. Und wenn sie sich dann doch bemerkbar macht, kann alles ins Wanken geraten, was uns zu halten vermochte. So scheint es dem weltberühmten Pianisten Mr. Ryder zu ergehen, von dem Kazuo Ishiguro im vierten und größten seiner bisher sieben Romane schreibt, der 1995 unter dem Titel The Unconsoled erschien. Überall wird Mr. Ryder als gefeierter Musiker, aber ebenso sehr als Mensch erwartet in der ihm fremden mitteleuropäischen Stadt, in der er angekommen ist. Und als der ältliche Hoteldiener ihn bittet, bei seiner Tochter Sophie zu vermitteln, mit der er seit Jahren kein Wort wechselt, obwohl er regelmäßig von ihr seinen Enkel Boris zum Spazierengehen in Empfang nimmt, ruft sie Mr. Ryder unerklärlicherweise gleich beim Namen und erzählt ihm, dass sie endlich das neue Haus für sich und Boris und ihn gefunden zu haben meint. Seltsamerweise dämmert dem Musiker, dass er mit dieser Frau in irgendeiner Form bekannt sein muss.
Ishiguro, dem in diesem Monat in Stockholm der Literaturnobelpreis 2017 übergeben wird, hat mit seinem Roman Die Ungetrösteten ein betörendes, beklemmendes Epos der menschlichen Zugehörigkeit geschaffen. Während ich mich in dieses monumentale Meisterwerk einlese, das Malcolm Bradbury als «einen der besten britischen Romane überhaupt» gepriesen hat, kommt mir jener Vergleich Rudolf Steiners in den Sinn, den er in einem öffentlichen Vortrag am 16. November 1923 in Den Haag anführte, um ein Gefühl zu beschreiben, das der Mensch haben kann, wenn er sich auf den Weg macht, ein konkretes Verhältnis zur geistigen Welt zu bekommen: «Wir kommen uns dann so vor, wie wenn wir unser individuelles, persönliches Dasein auf der Erde etwa durch folgenden Vergleich charakterisieren können. Irgendwo ist eine Versammlung. Wir sind aufgefordert, in diese Versammlung zu kommen. Wir sind deshalb aufgefordert, in diese Versammlung als Einzelner zu kommen, weil man dort darauf wartet, dass gerade das gesagt wird, was nur wir, was das einzelne Ich als persönliche Individualität vorbringen kann.»*
Es kann aber sein, dass wir nicht hingehen, dass wir im Leben etwas tun, wodurch wir verhindert werden, dort hinzugelangen, wo wir erwartet werden – oder dass wir nicht verstehen, was von uns erwartet wird.
Manches Tragische im Leben scheint mit dieser verfehlten Wahrnehmung des geheimnisvollen Erwartet-Werdens zusammenzuhängen.
Mögen wir in dieser Adventszeit diese Stimmung der Erwartung und des Erwartet-Werdens kraft- und lebensvoll erleben!
Von Herzen grüßt Sie, Ihr
Jean-Claude Lin