Wozu fühlt sich ein Mensch in seinem Leben berufen? Bei großen Talenten, zumal bei Musik- und Schachgenies, zeigt sich die eigene Berufung erstaunlich früh. Bei früh Verstorbenen oft auch. Erst 30 Jahre alt, starb Emily Brontë am 19. Dezember 1848 im Pfarrhaus von Haworth in Yorkshire, Nordengland. Berühmt ist sie geworden durch ihren einzigen, fulminanten, verstörenden, von innerer Wucht und Leidenschaft berstenden Roman Wuthering Heights / Sturmhöhe, der unter dem Pseudonym Ellis Bell zusammen mit dem Roman Agnes Grey ihrer jüngeren Schwester Anne, alias Acton Bell, im Dezember 1847 erschienen ist. Im Oktober desselben Jahres war noch Jane Eyre von der älteren Schwester Charlotte unter dem Pseudonym Currer Bell erschienen. Die drei jung verstorbenen Schwestern wurden zum «Brontë-Mythos».
«Emily Brontë scheint entschlossen gewesen, ihrem Leben den Stempel ‹ereignislos› aufzudrücken», schreibt Muriel Spark in ihrem Buch In sturmzerzauster Welt über die Brontës, «nicht, weil sie dem Leben teilnahmslos gegenübergestanden wäre, sondern weil sie im Gegenteil bis zum äußersten von dem in Anspruch genommen wurde, was sie als ihre individuelle Berufung ansah. Allein schon ihr Leben zu Hause erfuhr sie als bedeutungsvoll. Sie richtete ihre ganze Energie darauf, diese Bedeutung für sich zu definieren, und zwar zielgerichtet und methodisch durch ihre schriftstellerische Arbeit sowie indirekt über ihre Pflichten in Haushalt und Familie. Jeglicher Zeitaufwand darüber hinaus, zu dem man sie zu ihrem eigenen Besten überreden wollte, ging ihr gegen den Strich.» (Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein, erschienen im Diogenes Verlag.)
Emily und Anne hatten den schönen Brauch, an ihrem Geburtstag sich selbst einen Brief über ihre Gegenwart und ihre Zukunft zu schreiben, den sie drei Jahre später öffnen und wieder lesen sollten. So schreibt Emily im Jahr 1845 an ihrem 27. Geburtstag, am Donnerstag, dem 30. Juli, an einem regnerischen, windigen und kühlen Tag:
«Mit mir selbst bin ich recht zufrieden; ich bin nicht mehr lustlos wie früher; alles in allem genauso tüchtig, und ich habe gelernt, aus der Gegenwart das Beste zu machen und mich voll zappeliger Neugierde auf die Zukunft zu freuen, weil ich weiß, ich kann nicht all das verwirklichen, was ich möchte; selten bis nie stellt sich das Problem, nichts zu tun zu haben, und so wünsche ich mir bloß, alle könnten es so gut haben und wären so guter Dinge wie ich, und dann hätten wir insgesamt eine erträgliche Welt.» Am 30. Juli 1848 wird sie an ihrem Geburtstag diese Zeilen wieder gelesen haben – keine fünf Monate, bevor sie an der Schwindsucht stirbt. Doch sie hatte in der Abgeschiedenheit ihres Lebens in der nordenglischen Moorlandschaft mit Haushalt und Dichtung ihre Berufung gefunden.
Von drei anderen Berufenen erzählt diese Ausgabe unseres Magazins: vom fleißigen Fußballer Gerald Asamoah, dem heiteren Melancholiker und Komponisten Erik Satie und dem heiligen Mädchen aus Domrémy, Jeanne d’Arc, das das Schicksal Frankreichs wendete. – Mögen wir alle, jeder auf seine oder ihre Weise, unsere Berufung finden und erkennen!
Von Herzen grüßt Sie,
Jean-Claude Lin