Worauf wird es für die Gestaltung unserer Zukunft ankommen? Am 6. Juni 1984 wurde der Schriftsteller Italo Calvino von der Harvard Universität eingeladen, die renommierte «Charles Eliot Norton Poetry Vorlesung» im neuen akademischen Jahr 1985/86 zu halten. Mit seinen einzigartig phantasiereichen Romanen, wie Der geteilte Visconte, Der Baron auf den Bäumen oder Wenn ein Reisender in einer Winternacht, hatte der am 15. Oktober 1923 in Santiago de las Vegas auf Kuba geborene und in San Remo aufgewachsene Italiener weltweit auf sich aufmerksam gemacht. Nun durfte er, ebenso wie zuvor T. S. Eliot, Igor Strawinsky, Erwin Panofsky, Paul Hindemith, Theodor Wilder oder Jorge Luis Borges, eine Reihe von sechs Vorträgen konzipieren und halten, wobei der Begriff «Poetry» im Titel jede Form von poetischer, also kreativer Kommunikation, ob literarischer, musikalischer oder bildnerischer Art, beinhaltete.
Italo Calvino fiel die Aufgabe, wie seine Frau Esther im Vorwort zu dem später erschienenen Buch berichtet, gar nicht leicht, da ihm in der Wahl des Themas völlige Freiheit gewährt wurde, er aber «von der Notwendigkeit eines Zwanges bei der literarischen Arbeit» überzeugt war. Schließlich fand er doch zu seinem Thema: Er wolle auf einige «Werte oder Qualitäten oder Eigenheiten der Literatur» eingehen, die ihm für das kommende Jahrtausend von Bedeutung schienen. So nannte er sein Vorhaben «Six Memos For The Next Millennium», Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend: 1. Lightness (Leichtigkeit), 2. Quickness (Schnelligkeit), 3. Exactitude (Genauigkeit), 4. Visibility (Anschaulichkeit), 5. Multiplicity (Vielschichtigkeit) und 6. Consistency (Konsistenz, Haltbarkeit). Fünf der sechs Vorträge hat Italo Calvino noch ausformulieren können. Bevor er aber in die USA nach Harvard reiste, wo er den sechsten Vortrag ausarbeiten wollte, starb er in Siena. Es war der 19. September 1985, vor 33 Jahren. Seiner Frau Esther gegenüber hatte er gesagt, er habe eigentlich Stoff genug für acht Vorlesungen, und die achte könnte den Titel tragen: «Über das Anfangen und Beenden».
Worauf käme es bei allem zukunftsträchtigen Anfangen an? In unserem Gespräch mit dem Regisseur Andres Veiel kann man bemerkenswerterweise drei mal drei Fähigkeiten ausmachen, auf die es für die Gestaltung unserer Zukunft in besonderem Maße ankommen wird: erkennend, fühlend, handelnd. Wir werden die Fähigkeiten brauchen: 1. die tieferen Zusammenhänge zu erkennen, 2. die Ambivalenz, also Mehrdeutigkeit, der Welt und ihre Erscheinungen zu beachten, 3. die Offenheit und Neugier für das Geheimnis und Nicht-Gesagte lebendig zu halten; es wird notwendig sein: 4. auf Fähigkeiten statt Defizite zu setzen, 5. zu fühlen, wie Wissenschaft allein ohne die Kraft der Poesie und der Kunst unbefriedigend ist, und 6. die innere Stimme zu hören; und für alles Handeln werden wir lernen wollen: 7. Verantwortung zu übernehmen, 8. finanziell unabhängig zu sein, und 9. das eigene Tempo zu bestimmen.
Bei Italo Calvino wie bei Andres Veiel fehlte und fehlt eine Eigenschaft sicherlich nicht: die Freude am Leben und allem kreativem Gestalten unter Menschen, die Beethoven mit Schiller so weltumspannend und verbrüdernd besungen hat!
Freudig grüßt Sie in diesem September von Herzen, Ihr
Jean-Claude Lin