Liebe Leserin, lieber Leser!
Ich hatte Glück. Zumindest ab der 2. Klasse, als ich 1963 auf die neue Schule, The New School in Kings Langley, nördlich von London, kam, denn dort lernte ich eine Reihe origineller Lehrer und Lehrerinnen kennen.
«Originell» ist nicht wirklich das passendste Wort für sie – schrullig oder irgendwie auffällig waren sie nicht. Aber wie sie auf die «Steiner School», diese zweitälteste Waldorfschule Großbritanniens, gekommen waren, das war sehr individuell und ungewöhnlich. Mein Klassenlehrer, J. B. Wells, den ich jeden Morgen von Montag bis Freitag für den anderthalbstündigen «Hauptunterricht» hatte, war ehemals Gemüsebauer. Er war ein stattlicher, robuster Mann, der sich auch außerhalb seiner Klasse um alles Praktische am Schulgebäude oder im Schulgelände kümmerte. Wenn er zwei von uns Jungs in einer nicht selten vorkommenden Prügelei antraf, durften wir nach der Schule unsere «überschüssige Energie» beim Kehren des Schulhofes einsetzen. Samstags aber opferte er seinen freien Vormittag, um mit uns Willigen Fußball zu spielen – er dann war Trainer und Schiedsrichter.
Später, in der Oberstufe, hatte ich für den Hauptunterricht in Geschichte einen schottischen Lehrer, Norman Davidson, der früher unter anderem Journalist und Taxifahrer war. Mit ihm, der außerdem ein leidenschaftlicher Amateurastronom war, hatte ich meine ersten langen Auseinandersetzungen über Platons Philosophie, und er war es, der mich mit dem so rätselhaften Leben Kaspar Hausers bekannt machte.
Ein anderer Lehrer, R. Stevenson-Jones, den ich in Physik und Mathematik hatte, war, bevor er Lehrer wurde, als Ingenieur tätig, wie auch unser Gesprächspartner in dieser Ausgabe, Christian Boettger. Unvergesslich bleibt mir die zweiwöchige «Epoche» in Geschichte über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die er uns in unserem letzten Jahr in der 12. Klasse gab. Als wacher Zeitgenosse erzählte er uns über Tito, Chruschtschow, Kennedy und Mao, über Blockbildung und weltpolitische Spannungen. Ich lernte dabei einen so anderen Lehrer kennen und schätzen.
Heutzutage ist es viel schwieriger, als Quereinsteiger eine Stelle als Lehrer oder Lehrerin zu bekommen – und außerdem wollen so wenige Menschen überhaupt sich diesem Beruf «aussetzen». Selbst wenn er so viel Sinnstiftendes und Beglückendes haben kann, wie es Christian Boettger zu berichten weiß. Als Schüler findet man seine Lehrer einfach vor. Und manchmal hat man Glück. Es ist ein Glück, das nicht gesucht werden kann, aber wohl gefunden – wie bei John Cage. 22-jährig entdeckt er 1935 eines der späten Serienbilder des russischen Malers Alexej von Jawlensky und kauft es: eines der strengen, in Form und Farbe sehr reduzierten Antlitze mit geschlossenen Augen, das der Maler Meditation nannte. Begeistert schreibt der spätere Avantgarde-Komponist an den unheilbar kranken Maler: «Ich kann nicht Deutsch schreiben oder sprechen, aber ich bin sehr freudig, weil ich habe eines Ihnen Bilder gekauft: Jetzt ist es in mir. Ich schreibe Musik. Sie sind mein Lehrer.»
Mögen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, das Glück erlebt haben, Ihre Lehrer und Lehrerinnen, schätzen, ja lieben zu können. Mögen vor allem unsere Kinder und Enkelkinder dieses Glück erleben!
Von Herzen grüßt Sie, Ihr
Jean-Claude Lin