Liebe Leserin, lieber Leser
«Wer die alten Formen verlässt, muss sich bewegen», stellt der seit Jahrzehnten über unsere Formen des gesellschaftlichen und institutionellen Zusammenlebens nachsinnende Volkwirtschaftler und Prozessbegleiter Udo Herrmannstorfer in unserem Gespräch in diesem Monat fest. Das kennzeichnet gerade die Zeit der Moderne, dass allenthalben die alten Formen des Zusammenlebens und -arbeitens, ob in der Familie, im Betrieb, im Staat oder in der Religion, verlassen werden. Das Individuum will selbst, und muss es auch, sofern es eigenständig sein will, eine neue Gemeinschaft finden und bilden, in der es leben möchte. Dazu muss sich aber das Individuum bewegen. Und dann – ja, dann wird ihm der Weggefährte wichtig, der mitgeht, mitsucht und mitgestaltet!
Manchmal zeigen sich aber die «alten Formen» in ganz anderer Gestalt. Das wurde mir so unerwartet bewusst, als ich vom «blinden Fotografen» Hannes Wallrafen las. Mit 53 Jahren erblindet er, nachdem er 35 Jahre lang den Beruf als Fotograf ausgeübt hatte. Bestürzt lese ich in seiner Autobiografie, wie manche in seiner Umgebung ihm vorwarfen: «Du kommst ja überhaupt nicht dazu, deine Blindheit zu verarbeiten!» Er würde zu wenig um den Verlust seiner Sehkraft trauern. «Ich antwortete dann immer», schreibt er, «an welchen Momenten ich trauerte, würde ich selbst bestimmen.»
Zunächst bemüht sich Hannes Wallrafen mit stoischer Beharrlichkeit um eine neue Form seiner Existenz – und ist über eine Erfahrung aus der Anfangszeit seiner Erblindung verblüfft: «Irgendwann saß ich auf meiner Bettkante und hatte das Gefühl, als ob jemand neben mir säße, jemand Unbekanntes. Diese Situation wiederholte sich einige Male, und es schien, als säße ich jedes Mal wieder neben jemand anderem. Ich konnte also mit Recht sagen, dass ich nie ohne Gesellschaft war.»
Für solche Erfahrung ist derjenige, der um seine neue Existenz sucht und kämpft, sicherlich zutiefst dankbar. Das sind wir andere aber auch, die davon hören oder lesen dürfen! Möge jede und jeder von uns zu gegebener Zeit einem begegnen oder jemanden fühlen können, der in der Not bei uns weilt oder gar fragt: «Kommst du mit?»
Von Herzen grüßt Sie in diesem Monat Mai,
Ihr
Jean-Claude Lin