Was suchen wir in einem Roman?

Nr 237 | September 2019

«Wenn wir bei unserer Suche nach einem Roman danach gehen, ob er Protagonisten enthält, mit denen wir uns leicht ‹identifizieren›, oder eine Weltanschauung, mit der wir uns ohne Weiteres im Einklang empfinden können – dann ist es nicht wirklich Kunst, wofür wir uns interessieren.» Das schrieb der britische Schriftsteller Howard Jacobson neulich in der Times Literary Supplement zum 50-jährigen Bestehen des renommiertesten britischen Literaturpreises The Booker. Die Kunst, das Künstlerische, ob als bildende oder sprachlich-musikalische, hat etwas anderes und mehr zu bieten. Das kann einem bei der Lektüre des jüngst in deutscher Übersetzung erschienenen Romans Du gehörst mir von Peter Middendorp wohl ins Bewusstsein kommen. Gleich der erste Satz des ersten Kapitels kündigt einen höchst problematischen Protagonisten an: «Ich bin der Geringgeschätzte, der Unsympathische.»
Was Tille Storkema, die Hauptfigur des Romans, zutiefst unsympathisch macht, erfährt der Leser erst sehr allmählich und mit größtem Entsetzen – und wundert sich zugleich, wie dieser Bauer und Familienvater mit Frau und Kindern so lange mit seiner Schuld hat weiterleben können. Über seine Frau sagt er ziemlich am Anfang dieses verstörenden Romans: «Die ersten Jahre fiel es nicht so auf, dass Ada wenig Vergangenheit besaß. Es machte nichts. Ich selbst verfügte auch nicht über übertrieben viel Vergangenheit. Eine Jugend zu Hause, eine abgebrochene Ausbildung, ein Leben auf dem Hof. Mit Interesse für die Geschicke anderer musste man geboren sein; sich das später anzueignen war schwer.» Liest man allerdings einen Roman – vor allem wenn er gut geschrieben und erzählt ist –, so kann man sich Seite für Seite Interesse für die Geschicke anderer aneignen.
An einer Stelle bemerkt Tille Storkema: «Wir hatten uns nicht gemacht, wir waren nicht verantwortlich für uns oder für die Art und Weise, in der wir zusammengesetzt waren. Aber wir steckten andererseits auch schon lange genug in unseren Körpern, um von einer Mittäterschaft sprechen zu können. Wie ein Mieter allmählich Rechte im Haus eines anderen erwarb.» Aus der «Mittäterschaft» erwächst doch eine Mitverantwortung und schließlich eine neu erworbene Souveränität.
Werden wir, durch unsere Lektüren und Begegnungen mit der Kunst angeregt, noch interessierter für die Geschicke anderer in dieser Welt – und werden wir ein Stück souveräner!

Von Herzen grüßt Sie in diesem Monat September,
Ihr
Jean-Claude Lin