Es gibt in unserem Leben Leitmotive des Suchens und Handelns, des Leidens und der Freude, die immer wieder an bestimmten Stationen besonders sichtbar werden. Man kann auch von Hoffnungen und Idealen sprechen, die uns «eingeboren» sind.
Bei Rudolf Steiner, dessen 150. Geburtstag in diesem Jahr weltweit gedacht wird, finden wir auch solche Motive. Sein umfassendes Werk enthält eine kaum überschaubare Fülle an Erkenntnissen und Anregungen für alle Felder des Lebens. Das Motiv von Weisheit und Liebe aber, als Sinngebung menschlicher Existenz, begleitet seinen ganzen Werdegang und offenbart sich zuletzt als der Wesenskern seiner Anthroposophie. So lesen wir in einem Brief des Dreißigjährigen im Zusammenhang mit der mythologischen Gestalt des Prometheus, wie sie Shelley dargestellt hat: «Die Befreiung des Gefesselten durch Weisheit und Liebe bedeutet doch letzten Endes nur, dass die Fesselung in dem Momente aufhört, wo die im Innern schlummernde höchste Daseinspotenz, das ist eben Weisheit und Liebe, entbunden wird.»
Etwa zwanzig Jahre später führt Steiner dieses Motiv als Ziel der menschlichen Evolution auf. Er schreibt, dass alle Weisheit, die der Mensch erlebt, dazu bestimmt ist, die Erde in einen «Kosmos der Liebe» zu verwandeln. Weiter sagt er, am Ende seiner 1910 erschienenen ersten Ausgabe der Geheimwissenschaft im Umriss: «Weisheit ist die Vorbedingung der Liebe; Liebe ist das Ergebnis der im Ich wiedergeborenen Weisheit.»
Gerade an diese Worte knüpft Jean-Claude Lin in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Buches Weisheit und Liebe – Erfahrungen des Geistes Tag für Tag an, in dem wir für jeden Tag des Jahres eine Äußerung Rudolf Steiners vorfinden, die einem Vortrag oder einer Ansprache entnommen ist, die er am angegebenen Tag gehalten hat. Es ist das Verdienst des Herausgebers, Stellen ausgewählt zu haben, die zwar immer wieder in gewissen Variationen das Titelmotiv aufleuchten lassen, die aber insgesamt eine Art geistiges Saatgut sind, die vielfältige Anregungen für alle Lebensfelder der Anthroposophie enthalten.
Als ich mich an die Arbeit machte, dieses auch editorisch sehr gelungene Buch zu lesen, rüstete ich mich mit einem kleinen Heft von Klebezetteln in der gutgemeinten Absicht, ein paar besonders relevante Stellen zu markieren, um sie dann in der Besprechung zu zitieren. Am Ende der Lektüre ragte ein ganzer Wald von grünen Zettelchen aus den Seiten heraus … Das Buch hatte mich einfach gepackt und ich vermute, dass es auch anderen Lesern ähnlich gehen wird. Sie werden entdecken, dass sich dieser Lesestoff bald in reinen Gedankenstoff wandelt, um schließlich zu einem reichen Meditationsstoff zu werden – geeignet, uns jeden Tag zu begleiten und zu stärken, um dem Alltag weiser und (warum nicht) auch liebevoller zu begegnen.
Hier zwei Beispiele – querfeldein: «So beginnt Anthroposophie überall mit Wissenschaft, belebt ihre Vorstellungen künstlerisch und endet mit religiöser Vertiefung; beginnt mit dem, was der Kopf erfassen kann, geht heran an dasjenige, was im weitesten Umfange das Wort gestalten kann, und endet mit dem, was das Herz mit Wärme durchtränkt und das Herz in die Sicherheit führt, auf dass des Menschen Seele sich finden könne zu allen Zeiten in seiner eigentlichen Heimat, im Geistesreich. So sollen wir auf dem Wege der Anthroposophie ausgehen lernen von der Erkenntnis, uns erheben zur Kunst und endigen in religiöser Innigkeit» (30. Januar). «Man müsste in der gegenwärtigen Zeit eigentlich jedes geistige Streben als innerlich verlogen empfinden, das nicht den Übergang sucht zu sozialer Wirksamkeit» (16. Oktober).
Möge dieses besondere Buch viele Herzen erreichen.