Es ist ein durchaus wunderbarer Zustand, wenn für Momente die Vernunft mich verlässt und das Gefühl überhand gewinnt. Manchmal geschieht dies beim Hören von Musik. Manchmal beim Lesen eines Textes. Manchmal auch in den abgedunkelten, bepolsterten Räumen eines Kinos, selbst wenn in der Reihe davor oder (schlimmer noch) dahinter ein anderer glaubt, ohne seine unentwegt lästig raschelnden Chipstüten einen elenden Hungertod zu sterben.
Es gibt Filme, die können alles vergessen machen – oder an alles erinnern. Es sind Filme, die einen aus ganz unterschiedlichen Gründen nur innerlich oder tropfnass äußerlich zu Tränen rühren: Die Brücken am Fluss mit Clint Eastwood und Meryl Streep etwa können den ganzen Körper weinen lassen. Ach, welche Liebe (er)trägt unser Leben? Oder The King’s Speech mit Colin Firth und dem zauberhaften Geoffrey Rush vermag übermütige Freudentränen aus den Augen springen zu lassen. Mit Hingabe, Vertrauen und Freundschaft kann alles gelingen. Alles!
Der jüngste Film von Jean Becker, Das Labyrinth der Wörter, der auf der Buchvorlage von Marie-Sabine Roger beruht, gehört auch zu diesen gesehenen Glücksmomenten, die mehr als 90 Minuten «gute Unterhaltung» sind. Es ist die Geschichte über eine jener Begegnungen, die das Leben verändern können: In einem Park treffen sich Germain (von Gérard Depardieu in voller Pracht und in mehrfacher Hinsicht leinwandfüllend verkörpert), 45, Gelegenheitsarbeiter, praktisch Analphabet, und Margueritte (von Gisèle Casadesus zart und leicht und dennoch kraftvoll gespielt), eine zierliche, alte Dame über 90 und leidenschaftliche Leserin. Vierzig Jahre, rund einhundert Kilo und ein ganzes Universum unterschiedlicher Gedanken trennen sie. Eine Parkbank, ein gutes Dutzend Tauben und eine unstillbare Neugier aber verbinden sie – und bald auch die mitunter schönste Sache der Welt: Sprache, Literatur, Bücher.
Margueritte beginnt Germain Passagen aus Romanen vorzulesen und eröffnet ihm ein unbekanntes neues Reich. Nein, eine neue Welt blättert sich Seite für Seite vor ihm auf und beginnt die Wunden seiner Kindheit und Jugend zu lindern. Selbst seine tyrannische Mutter (von Claire Maurier herzerfrischend boshaft dargestellt), deren Liebesfähigkeit erst nach ihrem Tod erkennbar wird, kann Germain unverletzter ertragen. Seine Freunde im Bistro – etwas überzeichnete, aber nicht minder sympathische Figuren – witzeln anfangs über seine neuen Erkenntnisse und Weisheiten. Germain aber beginnt sein sich veränderndes Leben zu lieben. Und er beginnt sogar selbst zu lesen, da Margueritte langsam erblindet. Denn nichts, schon gar nicht sein Unvermögen, soll ihn von ihr und dem gemeinsamen innigen Sein zwischen Buchstaben, Worten, Geschichten trennen.
Als sich Marguerittes Zustand verschlechtert und ihre Verwandten sie in ein schäbiges Altenheim abschieben, überlässt Germain seine kleine Blume nicht ihrem Schicksal. Er entführt sie, nimmt sie für die noch bleibende Zeit zu sich und seiner hingebungsvollen Freundin Annette (gespielt von Sophie Guillemin), der es gelingt, seine Sehnsucht nach einer anderen nicht nur zu dulden, sondern zu verstehen.
Am Ende hört man nur noch Germains Stimme. Hört nur noch seine Hoffnung, dass ihnen noch etwas gemeinsame Zeit bleiben möge: «Sie lebte inmitten von Worten, umgeben von Adjektiven und Verben, die wachsen wie Gräser. Manche wachsen mit aller Gewalt. Sie sind sanft gewandert von meiner Rinde bis in mein Herz. In Liebesgeschichten gibt es nicht immer nur Liebe. Manchmal gibt’s nicht mal ein ‹ich liebe dich› – und doch liebt man sich …»
Und wieder ist er da, dieser wunderbare Zustand, wenn für Momente die Vernunft mich verlässt und das Gefühl überhand gewinnt: Ich schreibe diese letzten Zeilen mit überfließendem Herzen und erinnere mich – auch an Germain und Margueritte.