Am Anfang stand ein Zerwürfnis: Anlässlich des 250. Todesjahres von Johann Sebastian Bach im Jahr 2000, als John Eliot Gardiner begann, das kirchliche Kantatenwerk des Thomaskantors vollständig aufzuführen und einzuspielen, zog sich die Deutsche Grammophon in einem frühen Stadium vom Projekt zurück, was zur Trennung Gardiners von seinem langjährigen Vertragspartner führte. Er nahm die Verwertung der knapp 200 Werke nun in eigene Hände, nachdem er 2005 unter dem Namen «Soli Deo Gloria» seine Plattenfirma gegründet hatte, die ausschließlich Aufnahmen Gardiners mit seinen drei Ensembles (Monteverdi Choir, English Baroque Soloists und Orchestre Révolutionnaire et Romantique) veröffentlicht; zunächst also Bachs geistliches Kantatenwerk.
Wie bei den Bach-Interpretationen die Betonung des tänzerischen Ursprungs mancher Teile dieser Musik für Überraschung sorgte, so gelingt dies Gardiner mit seiner Brahms-Exegese, indem er einen bisher unbeachteten Aspekt hervorhebt und ein anderes Licht auf den vermeintlich düsteren Melancholiker wirft, da er den Bezug von Brahms’ Sinfonik zur Vokalmusik herausarbeitet.
Trotz zügiger Tempi lässt Gardiner die Instrumente atmen, förmlich singen. Ihm kommt dabei zustatten, dass die Musiker des Orchestre Révolutionnaire et Romantique auf historischen Instrumenten spielen. Gardiner steht damit ein höchst lebendiger und flexibler Klangkörper zur Verfügung, der Musik, befreit vom schwülstigen Dauer-Vibrato, zart und frei atmen lassen kann, und dessen Instrumente über einen wunderbaren Obertonreichtum verfügen, den moderne Äquivalente nicht besitzen.
Der Ansatz der Brahms-Interpretation Gardiners wird in seinen Aufnahmen dadurch unterstützt, dass den Sinfonien Vokalwerke von Schütz, Bach, Gabrieli, Mendelssohn und von Brahms selbst beigegeben sind, die Gardiner als Inspirationsquell der Brahmsschen Sinfonik betrachtet. Die Werke werden vom Monteverdi Choir gesungen, der in Deklamation, Ausdruck und stimmlicher Vollendung seinesgleichen sucht.
Ausführlich begründet Gardiner seinen Interpretationsansatz in den Begleitheften, die Gespräche zwischen ihm und dem englischen Komponisten Hugh Wood dokumentieren (als PDF abrufbar
unter: www.monteverdi.co.uk/shop/albums/). Tatsächlich erscheint Gardiners Lesart der Brahmsschen Sinfonik so verblüffend wie erhellend und könnte den Weg zu einem neuen Brahms-Verständnis ebnen. Dabei ist seine Vorgehensweise im Grund naheliegend: komponierte Brahms doch überwiegend Lieder und Chorsätze und nur in geringem Umfang Instrumental-,
insbesondere Orchesterwerke. Daher ist es nur konsequent, die Sinfonik aus der Vokal-Perspektive zu betrachten.
Lobenswert ist auch die Aufmachung der Alben: verzichtet wird auf Plastik, sie sind wie gebunden Bücher ausgestattet; das Layout der Booklets ist ansprechend und sie sind gut lesbar gesetzt. Informationen, die jedes Musiklexikon oder das Internet liefern können, unterbleiben. Gardiner selbst führt in die Aufnahmen und Werke mit eigenen Texten ein.
Mit dem Schritt, seine Aufnahmen selbst zu vermarkten und dabei ein lediglich sich selbst tragendes Unternehmen aufzubauen, hat der im April siebzig Jahre alt gewordene Künstler großen Mut bewiesen, und kann nun zurecht die Früchte dieses Wagnisses ernten, indem seinen Aufnahmen weithin viel Lob zuteil wird.