In einer Szene von Rüdiger Sünners Dokumentation Mystik und Widerstand wird die porträtierte Hauptfigur des Films, die Theologin und Autorin Dorothee Sölle, im Zusammenhang mit den Tagebuchaufzeichnungen von Anne Frank mit den Worten zitiert, jeder Satz dieses jüdischen Mädchens sei «den Mördern gestohlen und dem Leben zurückgegeben.» Etwas dem Leben, das einem geschenkt wurde, zurückzugeben und damit andere Menschen zu inspirieren und zum Nachdenken anzuregen, das hat sicher auch die 2003 verstorbene Dorothee Sölle geschafft, die neben zahlreichen Vorträgen und politischen Schriften auch einige Gedichtbände hinterließ, in denen sie ihre Rolle als politisch denkender Mensch und ihr Verhältnis zu Gott reflektiert.
Der Titel des Films, Mystik und Widerstand, bezieht sich zum einen auf eines der Hauptwerke der Autorin, fasst zum anderen aber auch treffend die beiden auf den ersten Blick schwer zu vereinenden Schwerpunkte in Sölles Wirken zusammen: ihr ausgeprägtes Interesse für die Mystik, von der sie sich eine Erneuerung der in autoritären Dogmen verhafteten Amtskirche erhoffte, und ihr
starkes politisches Bewusstsein, das sie zu einer engagierten Kritikerin gegen den Vietnamkrieg oder später – in den 80er Jahren – zu einer Kämpferin gegen den US-Raketenstützpunkt «Pydna» im Hunsrück machte.
Rüdiger Sünner leistet mit seiner Dokumentation eine Erinnerung an die unangepasste Theologin und zeigt zugleich die vordergründigen Widersprüche in ihrem Leben auf, die sich im Verlauf des Films zu einem stimmigen Gesamtbild fügen: Aufgewachsen in den 30er Jahren in einem gutbürgerlichen, atheistisch geprägten Elternhaus in Köln, konfrontiert mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und der Frage, ob Gott nach Auschwitz überhaupt noch denkbar ist, wendet sie sich in der Nachkriegszeit der Theologie zu und bleibt doch zeitlebens mit ihren unorthodoxen, freidenkerischen Ansichten innerhalb der akademischen Zirkel eine Außenseiterin. An deutschen Universitäten bekam sie nie einen Lehrstuhl für Theologie angeboten, dafür aber in New York, wo sie von 1975 an für zwölf Jahre am renommierten «Union Theological Seminary» unterrichtete. Eine prägende Station für Sölle, wie der Film zeigt, der auch einige ihrer alten Kollegen zu Wort kommen lässt.
In diesen Interviews sowie in den Gesprächen mit Sölles zweitem Ehemann, Fulbert Steffensky, oder ehemaligen Wegbegleiterinnen wie Antje Vollmer oder Margot Käßmann ergeben sich nicht nur komplexe Einsichten in die Persönlichkeit der Protagonistin, es wird auch ihr inspirierender Einfluss deutlich, den sie mit ihrem gesellschaftspolitischen Engagement (wie etwa 1968 durch die Gründung des «Politischen Nachtgebets», das der Evangelischen Kirche ein Dorn im Auge war) und ihrem undogmatisch geprägten Glauben auf ihre Mitmenschen hatte – einem Glauben, in dem Gott nicht als ein Allmachtsgott verstanden wird, sondern als eine spirituelle Kraft, die sich im tätigen Wirken der Menschen, in der Auflehnung gegen Krieg und soziale Ungerechtigkeit, offenbart.
Auch wenn Sünners Film ohne Überraschungen inszeniert ist und die zur Untermalung dienenden, stimmungsvollen Naturimpressionen mit der Zeit etwas ermüdend wirken, gibt er doch einen sensiblen Einblick in das Denken und Wirken seiner Protagonistin, der dem Zuschauer Raum lässt für eigene Reflexionen.