Was verbindet Mozarts Requiem, Beethovens neunte Symphonie, Schumanns vierte Symphonie und Mendelssohns fünfte Symphonie, die er auch «Reformations-Symphonie» nannte? Letzte Kompositionen sind sie außer bei Mozart nicht, aber letzte Symphonien wohl – und sie sind alle in d-moll. Brahms, der ein ausgeprägtes Bewusstsein für Werke und Wirkgeschichte seiner Vorgänger bis zu Bach und Händel pflegte, komponierte keine seiner vier Symphonien in d-moll, dafür aber als erstes großes Orchesterwerk sein erstes Klavierkonzert op. 15 – und auch die erste seiner frühen vier Balladen op. 10, nach der schottischen Ballade «Edward» genannt, ist in d-moll.
Und was verbindet Johann Caspar Kerlls Passacaglia, Ludwig van Beethovens Klaviersonate Nr. 17 op. 31 Nr. 2 und Johann Sebastian Bachs Chaconne aus der Partita für Violine solo BWV 1004, die Johannes Brahms für die linke Hand fürs Klavier bearbeitete? Außer, dass alle drei Werke in der ersten Hälfte eines Konzerts des jungen Pianisten Igor Levit am 4. September im Rahmen des diesjährigen Musikfestes der «Internationalen Bachakademie Stuttgart» vorgetragen wurden, sind auch sie allesamt in d-moll, wie auch das letzte Stück des Programms in seinem ersten Hauptteil: Après une lecture de Dante – Fantasia quasi Sonata aus Franz Liszts Deuxième année de pèlerinage: Italie S 161.
Über die zugrunde liegenden Tiefenströmungen, die mit d-moll zusammenhängen, schweigt das ansonsten lesenswerte begleitende Programmheft. Doch zufällig können die Stücke nicht ausgewählt worden sein, zumal die 17. Klaviersonate Beethovens die einzige seiner zweiunddreißig Sonaten ist, die er in der Tonart d-moll
komponierte, und es zudem naheliegender erschiene, da Igor Levit seine erste CD mit Beethovens fünf letzten Klaviersonaten gerade veröffentlicht hat, Beethovens letzte Klaviersonate Nr. 32 op. 111 zwischen Kerlls Passacaglia und Bachs Chaconne zu integrieren – die aber ist in c-moll.
Am Tag danach, nach dem bemerkenswerten Konzert im Mozart-Saal der Stuttgarter Liederhalle, musste ich beim Nachsinnen über das Spielen des 1987 geborenen Igor Levit innerlich schmunzeln, als mir der Gedanke kam, sollte ich über dieses Konzert schreiben, müsste ich als Überschrift wählen: «Baden in d-moll». Aber – das wäre nicht treffend gewesen! «Baden» ist gar nicht das richtige Verb zum Andeuten des wesentlichen Geschehens im Zuhören dieses doch wohl sehr bewusst komponierten Klavierrezitals.
Im Zuhören und Zuschauen war man an diesem Abend ganz Aufmerksamkeit, jeden Ton und jede kleinste Krümmung des kleinen Fingers verfolgte man enthoben aller Last des Tages und Schwere des Leibes. Einige Tage später fragte ich eine Freundin, die mich zum Konzert begleitet hatte und die einen ausgebildeten Sinn für die verborgenen und auch therapeutischen Strömungen der Lebenskräfte und -zusammenhänge besitzt, was denn sie an diesem Abend bemerkenswert fand? Wenn er spielt, sagte sie, verschwindet er ganz in seine Finger, er ist ganz in seinen Fingern und sie sind ganz Musik. Und wenn er zu Ende gespielt und das laute Klatschen ihn wieder aus seinen Fingern herausgeholt hatte, war er bass erstaunt und verwundert. So viel in die Finger geronnene Aufmerksamkeit – ja, wie er verschwindet ganz in seine Finger – das ist bemerkenswert!
Das Konzert wurde vom SWR mitgeschnitten und wird am 26. November 2013 um 13:05 Uhr auf SWR2 gesendet. Igor Levits erste Schallplattenaufnahme «Beethoven. The Late Piano Sonatas, opp. 101, 106, 109, 110, 111» ist bei Sony Classical erschienen, Nr. 88883747352, in Koproduktion mit der BBC Radio 3. – Das ist schön. Aber der lebendige Eindruck ist unendlich viel mehr.