Publikationen stellen einen wesentlichen Beitrag wider das Vergessen dar. Doch nicht nur das Große, das Politische, das Allgemeine benötigt unsere Aufmerksamkeit, sondern das kleinste Glied der Menschheitsgeschichte – der Mensch selbst –, nämlich dort, wo er in Vergessenheit zu geraten droht oder mit Absicht ins Vergessen getrieben wird: Wenn ein Mensch seines Namens beraubt, hinter einer Nummer verborgen und schließlich ganz in der namenlosen Masse der Zahllosen, vom Schicksal abgeschnitten, aus der Welt verschwindet.
Dieser Versuch, einem Menschen seinen Namen, seine Biografie, wiederzugeben, wurde zu einer archäologischen Puzzlearbeit – und führte schließlich zur Begegnung mit einem Menschen, der nun seine Geschichte zu erzählen begann.
Das Buch Alfred Bergel – Skizzen aus einem vergessenen Leben ist Karl König zu verdanken, dem engsten Jugendfreund Alfred Bergels, der in seinem Tagebuch immer wieder von seinem Freund «Fredi» und dessen Familie berichtete. Beide wurden 1902 geboren und sind gemeinsam in Wien aufgewachsen. Sie haben die gleiche Schulklasse besucht, die Familien König und Bergel waren befreundet. Diese Tagebuchpassagen führten zur Frage nach Alfred Bergels weiterem Schicksal. Dass er 1942 nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet wurde, hat Karl König – außer einigen Gerüchten darüber – nicht mehr erfahren. Da über den Lebensweg von Alfred Bergel nichts Wesentliches in die Geschichtsschreibung eingegangen ist, er aber unter den Theresienstädter Häftlingen beliebt war, was die Zeugenaussagen belegen, lag es nahe, anhand der zahlreich vorhandenen Tagebuchnotizen seiner zu erinnern.
Er kann nicht selbst über sein Leben und Werk berichten, er hat Auschwitz nicht überlebt. Die Schicksalswege haben mir diese Aufgabe übergeben, mir wurde bewusst, welch besonderes Erlebnis und Geschenk es ist, sich der Biografie dieses Menschen so intensiv nähern zu dürfen. Die Recherchen brachten immer wieder neue Informationen und Dokumente zutage, einige seiner Zeichnungen konnten in den Archiven der Welt gefunden werden: in Israel, den USA, Deutschland, der Tschechischen Republik und in Australien – verstreute Scherben eines Kunstwerks, das wir Biografie nennen können.
Obwohl eine kaum überschaubare Literatur über den Holocaust existiert, bleibt vieles im Dunkeln, ist verdrängt und wartet darauf, ans Licht gehoben zu werden. Alfred Bergel ist in den Archiven und Museen zum Holocaust unbekannt; die Mitarbeiter wussten mit dem Namen nichts anzufangen. Er ist weitgehend vergessen. Es gibt mehrere Bücher und Publikationen über die Maler in Theresienstadt, in denen er nicht erwähnt wird. Im heutigen Terezín wurde in der Magdeburger Kaserne eine ausgezeichnete, umfangreiche und gründlich recherchierte Ausstellung über die Maler in Theresienstadt zusammengestellt. Sie enthält eine beeindruckende Anzahl von Bildern, auch viele anonyme Zeichnungen, jedoch kein einziges von Alfred Bergel.
So sind viele Biografien noch nicht aus dem Dunkel des Vergessens gehoben – der Holocaust-Forschung bleibt noch vieles zu tun –, jene von Bergel können wir etwas beleuchten. Während der Spurensuche gab es erstaunliche Hürden zu bewältigen, die oft im kleinsten Detail lagen, aber darum nicht weniger wichtig waren.
Mein Buch versucht, den Lebensweg von Alfred Bergel nachzugestalten, bedenkend, wie er von seinen innewohnenden Lebenszielen abgebracht wurde. Zugleich möchte es die immer wieder gegenwärtige Menschlichkeit feiern, die selbst im tiefsten Dunkel sich unbeirrbar zeigen konnte … und kann.