Es ist ein doppelt schöner Moment: Die Türen öffnen sich, und beim vorfreudigen Treppab in den Ausstellungsraum steigen die suchenden Augen sogleich treppauf in einem Bild. Und sie steigen die Stufen dabei nicht in irgendeinem Bild empor, sondern in jenem von Oskar Schlemmer, das als Inbegriff seiner Suche nach dem Einssein von Mensch und Raum gilt: der Bauhaustreppe aus dem Jahr 1932.
Natürlich lässt sich nicht nur dieses zentrale Werk Schlemmers (am 4. September 1888 in Stuttgart geboren, am 13. April 1943 in Baden-Baden gestorben) sehend nachgehen. Die 270 Werke umfassende Retrospektive, die in der Stuttgarter Staatsgalerie nach fast 40 Jahren endlich wieder diesen ungewöhnlichen «Sohn der Stadt» umfassend würdigt, zeigt seinen künstlerischen Lebensweg anhand von sechs prägenden Stationen und den dazu gekonnt zusammengestellten Exponaten: «Studien- und Kriegsjahre», «Lehrer am Bauhaus in Weimar und Dessau», «Lehrer in Breslau und Berlin», «Der verfemte Künstler», «Schlemmer als Wandgestalter» und «Schlemmer als Tanzgestalter und Bühnenbildner».
Ob als junger Student an der Stuttgarter Kunstakademie, als Maler und Bildhauer, der im Austausch mit den experimentierfreudigen Künstlern um Herwarth Waldens Galerie Der Sturm stand, ob als Choreograph des berühmten Triadischen Balletts und Bühnenbildner, als Lehrer am Bauhaus, an das er von Walter Gropius berufen wurde, oder als kenntnisreicher Autor kunsttheoretischer Schriften – all diesen Stationen ist eines gemeinsam: Oskar Schlemmer ging es von Beginn an um den utopischen Entwurf einer Gegenwelt zur oft als beklemmend düster erlebten Wirklichkeit. Und im Zentrum dieses Entwurfs stand der Mensch als Ursymbol für die gesuchte, die ersehnte Harmonie und Vereinigung von innen und außen, von Einzelnem und Welt, von Ich und Du.
Während seine Zeitgenossen in Dresden und rund um Murnau die Kleider von sich warfen und nackt in Seen sprangen oder über Wiesen hüpften, um so gereinigt und befreit von allem spontan und unverhüllt ihr Innerstes expressionistisch auf die Leinwand zu werfen, oder in Frankreich als Surrealisten wein- und drogengetränkt im Unbewussten wühlten, sich im anderen suchten und dort als geometrische Körper wiederfanden, war für Schlemmer der Mensch so nicht wieder ins ersehnte Gleichgewicht zu bringen. Er musste ihn erst einer Bauanleitung gleich in seine Einzelteile zerlegen. Musste Grundformen, Kerntypen und Urmuster finden. Musste sie erkennen. Linien und Schwünge. Eine Gerade und zwei Gebogene. Drei Kugeln und vier Zylinder. Winkel und Flächen. Oskar Schlemmer zerteilte den Körper – und mit ihm seine Umgebung. Doch er überließ die Einzelteile nicht sich selbst. Ließ sie nicht wahllos liegen und andere Erscheinungsformen bilden. Er brachte sie wieder zueinander. Spielte mit ihrer Wiederholung, spielte mit ihren Möglichkeiten, an deren Ende wieder der Mensch als seinesgleichen im Raum erkennbar ist. Erkennbar jedoch nicht als Sympathieträger oder Bösewicht, als Verführer oder Mahner, sondern als das, was der Betrachtende im Moment des Sehens erkennt: einen Stellvertreter für jene, die vor ihm da waren und nach ihm kommen werden.
«Für mich bedeutet abstrakt kurzweg Stil, und Stil bedeutet bekanntlich letzte Form, die möglichste Vollendung. Der Weg dazu führt über die Überwindung des Naturalismus, über die Loslösung von unwesentlichem Beiwerk zu immer größerer Präzisierung der Idee.» So notierte es Schlemmer am 7. September 1931 in sein Tagebuch. Dieser «Idee» widmete er sein gesamtes künstlerisches Streben, und dieser «Idee» kann man nun schon auf den ersten Stufen dieser großartigen Ausstellung selbst nahekommen.