Stuttgart in den Jahren um den Ersten Weltkrieg: Die Theatergruppe des altehrwürdigen Eberhard-Ludwig-Gymnasiums probt Schillers Wilhelm Tell: «Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht. / Wenn der gedrückte nirgends Recht kann finden, / Wenn unerträglich wird die Last, / … / Zum letzten Mittel, wenn kein anderes mehr / Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.»
Wie schicksalhaft die Worte der Figur Stauffacher für zwei der Schüler klingen sollten, wissen die beiden da noch nicht. Der eine, Claus von Stauffenberg, später Oberst im Generalstab der Wehrmacht, wird versuchen, sie gegen Hitler in die Tat zu bringen. Der andere, Fritz Bauer, später Generalstaatsanwalt in Hessen, zitiert sie noch einmal im Plädoyer eines aufsehenerregenden Gerichtsprozesses, den er 1952 um die Rehabilitierung des längst hingerichteten Mitschülers und dessen Mitstreiter führt. Ein Verfahren, das es im Nachkriegsdeutschland brodeln lässt, denn die Verschwörer des 20. Juli gelten bis dato gemeinhin noch als Landesverräter. Der Prozess wird sie in ein anderes Licht rücken. Es ist ein erster Schritt von vielen kleine und großen, die Bauer unternimmt, um die junge Republik durch Aufklärung des Naziunrechts auf eine neue Grundlage zu stellen. Ein weiterer großer dieser Schritte ist der erste Auschwitz-Prozess (1963 – 1965) in Frankfurt am Main. Nicht der Wunsch nach Vergeltung treibt den Juristen Bauer dabei an, der als Sozialdemokrat und Jude im KZ war, bevor ihm die Flucht ins Exil gelang. Es geht ihm um die Offenlegung des Geschehenen, um daraus Lehren zu ziehen.
Wenn man sich seinem Wesen in Reden, Texten, Zeitzeugenberichten und alten Filmaufnahmen nähert, ergibt sich das Bild eines scharfsinnigen Mannes, den eine tiefe und ehrliche Sorge um Menschlichkeit und die demokratische Zukunft des Landes umtreibt. Die Gerichtsprozesse um NS-Verbrechen, die er initiiert, werden zu Bewusstseinsprozessen für die deutsche Öffentlichkeit. Unweigerlich halten sie der wirtschaftswunderbeseelten Gesellschaft einen Spiegel vor. Die Fratze, die sich darin erkennt, faucht wütend zurück. Bauer wird mit Beleidigungen und Morddrohungen terrorisiert und in seiner Arbeit von Kollegen und staatlichen Institutionen behindert.
Der Staat gegen Fritz Bauer ist daher der treffende Titel eines nun erscheinenden Films, der sich auf eine Episode in Bauers Leben konzentriert, die erst nach seinem Tod bekannt wurde: Es geht um die zentrale Rolle, die er bei der Erfassung des in Argentinien untergetauchten Naziverbrechers Adolf Eichmann spielte. Auch wenn hier genug Potenzial für einen Agententhriller läge, widersteht Regisseur Lars Kraume der Versuchung, die Erzählung nur hierauf zuzuspitzen oder künstlich ins Dramatische zu beschleunigen. Stattdessen zeichnet er das Geschehen in einer realistischen Weise nach, die genug Raum und Zeit lässt, die Atmosphäre jener Jahre zu vermitteln und ein lebendiges Porträt des Menschen Fritz Bauer entstehen zu lassen.
Lebendig in einer Art, dass auch durch diesen nur kleinen Ausschnitt seines bewegten Lebens eine deutliche Ahnung entsteht, wer er gewesen sein mag. Dass dies gelingt, ist vor allem der Verdienst von Burghart Klaußner, der den ketterauchenden Staatsanwalt in sensibler und überzeugender Weise verkörpert. Besser könnte es wohl nur das Original. Wer das sehen will, dem sei neben dem neuen Kinofilm die im Internet zu findende Fernsehaufzeichnung der Gesprächsrunde Heute Abend im Kellerklub von 1964 ans Herz gelegt. In der Debatte, die er da mit Jugendlichen führt, wird ebenso deutlich, was da für ein guter Geist zur rechten Zeit am rechten Ort war.