Anton Bruckners Symphonien gelten gemeinhin als «schwere Kost», monumental in der Besetzung des Orchesters wie in ihrer zeitlichen Ausdehnung; pathetisch-weihevoll bis wuchtig-einschüchternd gerät da manche Interpretation. Die Mehrzahl der Aufnahmen ist daher die Wiederkehr des Immergleichen. Nur wenige Interpreten wagen es, Bruckner befreit vom Ballast jahrzehntelanger spätromantischer Exegese zu erarbeiteten und neu zu befragen.
Verlässt man jedoch die ausgetretenen Pfade und betrachtet Bruckners Partituren durch die «historische Brille», kann man zu ebenso überraschenden wie überzeugenden Ergebnissen kommen.
Genau dies gelingt dem Schweizer Dirigenten Mario Venzago in den nun als Box vorliegenden Aufnahmen der Symphonien 0 bis 9. Diesen Zyklus hat er mit fünf Orchestern eingespielt, die traditionell nicht als Bruckner-Exegeten hervorgetreten sind: dem Berner Symphonieorchester, dem Sinfonieorchester Basel, dem Konzerthausorchester Berlin, der englischen Northern Sinfonia aus Newcastle und der finnischen Tapiola Sinfonietta.
Venzago erarbeitete jeweils eine Symphonie gerade mit dem Orchester, das er für die Erfordernisse des Werks als den geeignetsten Klangkörper erachtete, auch hinsichtlich der Besetzung – da die frühen Symphonien vergleichsweise schmal besetzt sind, während die späten das umfängliche spätromantische Orchester erfordern. Die teilweise parallel verlaufende Arbeit mit den fünf Orchestern hatte zudem den Vorzug, dass die Vorbereitung und Einspielung des Zyklus’ in einem überschaubaren Zeitraum zu verwirklichen war.*
Grundlage für Mario Venzagos Interpretation sind die Erkenntnisse der historisch informierten Praxis: Auf das Streichervibrato wird weitgehend verzichtet; auch die Holzbläser zeichnen sich durch einen schlanken, unverfälschten Klang aus.
Die von Venzago realisierten Dynamikverläufe sind fein gestaffelt und lassen das Orchester selbst im Tutti-Fortissimo deutlich aufgeschlüsselt und transparent erklingen. Der Dirigent erliegt nicht der Versuchung, extreme Dynamikvorschriften bis ins Martialisch-Lärmende auszureizen. Bei der Wahl der Tempi bezieht sich Venzago auf die Symphonik von Vorläufern Bruckners, die bei ihm hörbar Spuren hinterließen: Mendelssohn, Schumann und Schubert. Die Tempi nimmt Venzago eher zügig bis schnell. Sein Ansatz wirkt, verstärkt durchs Rubato-Spiel, frei fließend, ungezwungen-natürlich und in sich stimmig. Er setzt sich damit deutlich vom Gros der Bruckner-Interpreten ab, die selbst Sätze mit schnellen Tempivorgaben gern behäbig, wenn nicht verschleppt, angehen, um den symphonischen Kolossen möglichst viel Feierlichkeit zu verleihen.
Mario Venzago hingegen kann mit seiner Herangehensweise eindrucksvoll die Binnenstruktur der Sätze offenlegen, die sonst zerklüftet und disparat erscheinen. Melodien, die unter anderer Stabführung ins Unendliche gedehnt werden, bekommen bei Venzago eine bislang ungeahnte Lebendigkeit und Frische. Mancher Satz erscheint nun ausgesprochen liedhaft, ein anderer erhält deutlich tänzerischen oder marschartigen Charakter.
Die Symphonien dieses Zyklus’ zeigen dank Mario Venzagos Engagement Anton Bruckner als Vollblutromantiker, der aus der Tradition hervorging. Da wird nichts hineingeheimnißt oder ins Mythische verbogen. Venzago lässt die reine Partitur «sprechen»: Bruckner kann in dieser Lesart auch heiter und lustig sein, sprühend von Leben und Energie, und nicht der Säulenheilige, den man – Weihrauch schwenkend – umrundet.