«Ich weiß nicht, ob es ein andres Buch gibt, in dem so der Zauber des Ungesagten, der Stimmung, lebt, in dem so wenig Worte sind und so viele Schönheiten, so viel Duft und so viel Sonne.»
Ein nächtlicher Leser, der selbst nach einem Ausdruck im Schreiben tastet, berichtet dies über den Roman Niels Lyhne. Das Buch des dänischen Schriftstellers Jens-Peter Jacobsen erschien 1880, der nächtliche Leser ist der zwanzigjährige Hermann Hesse, dem das Buch während seiner Buchhändlerlehre in Tübingen ein wichtiger Begleiter ist. Ein «Wunderbuch» nennt er es. Für Wunderbücher und Schreiben ist allerdings nur nachts und sonntags Zeit. Unter der Woche arbeitet er von früh bis spät in der Buchhandlung Heckenhauer. Mit der «schönen Literatur» kommt er dabei nicht allzu oft in Berührung. Heckenhauer führt vor allem juristische, theologische, medizinische und andere wissenschaftliche Werke, die der junge Lehrling sortiert, verpackt, verschickt oder zu den Professorenhäusern in der Stadt austrägt.
Die Heckenhauer Buchhandlung gibt es heute noch. Ein Antiquariat in einem roten Fachwerkhaus am Holzmarkt in der Tübinger Altstadt, wo die Studierenden auf den Stufen vor der Stiftskirche sitzen und fast immer jemand am Brunnen musiziert, über dem der heilige Georg das Ungeheuer besiegt. Und «Wunderbücher»? Gibt es sie heute noch? Bestimmt. Natürlich. Aber manchmal ist es nicht leicht, sie zu finden, sie aus der Masse der Produktion herauszufiltern. Gut also, wenn man um Menschen und Orte weiß, die einem dabei helfen.
Einen Schlender vom Holzmarkt entfernt, in der Nähe des Alten Botanischen Gartens, befindet sich so ein Ort: Das BuchKaffee Vividus. Ein kleiner Laden, ebenfalls in einem Fachwerkhaus. 1488 wurde es erbaut und diente einst als Nonnenkloster. Vor acht Jahren wurde es sorgfältig renoviert – seitdem duftet es im ehemaligen Refektorium nach frischem Kaffee und frischen Büchern, die man hier kaufen kann. In den Regalen vor den Blockbohlenwänden aus dem 15. Jahrhundert stehen Romane und Erzählungen, Kinderbücher, Naturbücher, Literatur zu Anthroposophie und Spiritualität sowie zu Politik und Zeitgeschichte. Auf einem Tisch in der Mitte des Raumes locken Neuerscheinungen aus der Belletristik. Wer bei Kaffee oder Tee auf den roten Polstern am Schaufenster sitzt, braucht nur den Arm auszustrecken, um hineinzuschmökern. Die Wahrscheinlichkeit, hier auf Wunderbücher zu stoßen, ist groß. Weil sie mit Herz und Verstand ausgesucht wurden, nicht von einem Algorithmus im Internet, der einem nur das anpreist, was andere Käufer angeblich auch kauften. Ebenso handverlesen wie die Bücher ist eine feine Auswahl an DVDs und Postkarten.
Zeitungsrascheln und leise Unterhaltungen füllen den Raum, im Hintergrund säuselt Norah Jones aus den Boxen. Wer es noch ruhiger haben will, geht durch eine niedrige Tür in den Nebenraum und nimmt mit Buch und Getränk auf den fünfhundert Jahre alten Stufen einer Holztreppe Platz. Sitzgelegenheiten gibt es auch im Garten, wo ein Kräuterbeet an den Mediziner und Botaniker Leonhart Fuchs erinnert, der nach der Reformation mit kinderreicher Familie das Haus bewohnte. Von ihm bekam die Fuchsie ihren Namen und die Welt ein umfangreiches Werk über Pflanzen und deren Heilwirkungen. Die schön aufgemachte Neuauflage von Das Kräuterbuch von 1543 ist natürlich im Vividus erhältlich. Ein wunderbares Buch unter wunderbaren Büchern an einem wunderbaren Ort.