«Grundsätzlich funktionieren wir wie eine Achterbahnfahrt – man möchte Lebenserfahrungen machen, ohne die Folgen dieser Lebenserfahrungen erleiden zu müssen.» Diese Antwort gab mir Josef Hader, als Kabarettist ein Meister im Spiel mit hintersinnigen Irritationen, auf die Frage, warum wir im Kino anderen so gerne beim Scheitern zusehen. Er selbst hat nun gleich mehrfach die Fahrt in der Achterbahn gewagt: real beim Filmdreh im Wagen steil bergauf, dann blindlings sturzgleich hinab – und übertragen als Drehbuchautor, Hauptdarsteller und Regisseur in Personalunion. Regie zu führen war ein lang gehegter Wunsch von Josef Hader, der mit der Tragikomödie Wilde Maus nun erstmalig in Erfüllung ging und ihn und sein Team sogar in den Wettbewerb der Berlinale führte.
Den Achterbahntyp Wilde Maus charakterisiert, dass man beim Durchfahren der sehr engen Kurven den Eindruck erhält, der Wagen würde ungebremst aus der Kurve getragen. Aus der Kurve des wohlig eingerichteten Lebens wird auch der Protagonist, Georg Endl, getragen – und verliert dabei nicht nur sein Selbstwertgefühl, sondern Szene für Szene seinen ethischen Kompass. Äußerlicher Auslöser ist hierbei seine Entlassung: Nach 25 Jahren als Musikkritiker einer renommierten österreichischen Zeitung wird ihm, dem «überbezahlten Auslaufmodell», vom manipulativ smarten Chef Waller (Jörg Hartmann) gekündigt.
Für Georg, die selbstempfundene kulturelle Instanz, die mit einer einzigen Zeitungsspalte musikalische Karrieren fördern oder zerstören konnte, beginnt mit der Räumung seines Schreibtisches ein Wechselspiel aus Verzweiflung und Unverständnis.
Zu diesem äußerlichen Grund kommt noch ein innerer hinzu, der Georgs Wesen prägt: Er ist ein Feigling. Er leidet nicht nur an beruflicher Hybris, sondern auch an privater Konfliktphobie. Seiner jüngeren Ehefrau Johanna (Pia Hierzegger), einer Therapeutin mit ausgeprägter Midlife-Crisis, die wegen ihres krampfhaften Kinderwunsches selbst einer Therapie bedürftig erscheint, erzählt Georg nichts von seiner beruflichen Niederlage und treibt sich stattdessen tagsüber in seinem alternativen Redaktionsbüro, dem Wiener Prater, herum. Da jedoch auf eine Ausweichstrategie bald die nächste kleine Lüge folgt und statt ehrlicher Kommunikation in der hübschen Altbauwohnung Ausreden das eisprunggesteuerte Miteinander prägen, driftet dieses Großstadtpaar unaufhaltsam auseinander. Zumindest vorerst.
Der Prater als Gegenentwurf zum Bildungsbürgerleben dient anfangs als sicherer, weil abwegiger Fluchtort, wird aber bald für Georg ein zweites Zuhause. In Erich (Georg Friedrich), einem ehemaligen Mitschüler, der dort allerlei Jobs annimmt und wieder hinwirft, findet er sogar einen Freund, an den er nicht mehr geglaubt hatte. Mit ihm tritt er in Kontakt zu einer Welt jenseits von Hochkultur und Bio-Lachs und übernimmt als Kompagnon das titelgebende Fahrgeschäft Wilde Maus.
Im Zusammenspiel der stimmungsvoll inszenierten Bilder aus der Kamera von Andreas Thalhammer und Xiaosu Han und der gekonnt ausgewählten Musik, die wie ein unsichtbarer Darsteller agiert und fast mehr Charakterzeichnung ausprägt als die leicht Klischee überladenen Figuren, rast die Geschichte ungebremst ihrer tragisch-komischen Höhepunktskurve entgegen. Wut und Rachsucht übernehmen mehr und mehr die Regie in Georgs Leben: Tagsüber bedauert er sich selbst, nachts aber unternimmt er kleine, sich steigernde Sachbeschädigungen und feige Anschläge gegen seinen ehemaligen Chef. Eine verlockende, wenn auch schaurige Vorstellung: Wir denken uns nicht nur Bosheiten – wir leben sie auch aus. Was mit einem Kratzer im Autolack beginnt, führt schließlich mit gezogener Waffe zu einem unbeholfenen Faustkampf und gipfelt in einem hinreißend skurrilen Selbstmordversuch, dessen Verlauf und Ausgang in einer Bilderbuchwinterlandschaft nicht beschrieben werden soll – man sollte ihn und den gesamten Film selbst gesehen haben. Seit dem 17. Februar hat man in Österreich, ab dem 9. März auch in Deutschland und der Schweiz freudig Gelegenheit dazu.