Rainer Maria Rilke bereiste Russland zweimal, zuerst 1899 gemeinsam mit dem Ehepaar Friedrich Carl Andreas und Lou Andreas-Salomé, dann ein Jahr später mit Lou Andreas-Salomé allein. Für Rilke bedeuteten diese Reisen das Kennenlernen eines Landes, von dem er sich bereits zuvor eine sehr genaue Vorstellung gemacht hatte. Er war fasziniert von dem, was er sich unter einem russisch-christlichen Volksglauben vorstellte. Armut, so meinte er, führe den Menschen näher an das heran, was auch für ihn ein wahrhaft empfundener Glaube sein könne – ein Glaube, nach dem er sein gesamtes Leben lang suchen sollte.
Bei beiden Reisen besuchte man Lew Tolstoj, einmal in Moskau, einmal auf dessen Landgut. Allein diese beiden Begegnungen kann man sich in der Marbacher Ausstellung (und darüber hinaus) ausführlich widmen, denn sie verraten einiges über den Menschen und den Dichter Rilke.
Was Rilke in Russland fand, war, was er finden wollte. Nach der Lektüre Tolstojs, Dostojewskijs und Turgenevs steht für ihn fest, dass sich das russische Volk, die russische Nation auf eine andere Weise entwickelt, als die Völker Westeuropas. Er schreibt dem Russischen eine tiefer empfundene Innerlichkeit zu, eine (in gewisser Weise entwicklungsverneinende) Langsamkeit, die dem Dichter gemäßer ist. Und so hatten beide Reisen vor allem das Ziel, seine Seele mit Bildern anzufüllen. Folgerichtig kehrt er mit tiefen religiösen Eindrücken einer Osternacht in Moskau und den Impressionen einer Weite zurück, wie sie ihm nur die unendliche Steppe und die Wolga schenken konnten. Und mit einer Goldschicht auf seinem Inneren, die ihm seine bisherigen Lebensstationen Prag, Linz und München nicht zu bieten vermochten. Er beschäftigte sich intensiv mit der Ikonenmalerei, was in den Gedichtzyklen nach seiner Rückkehr deutlichen Niederschlag fand. Allem voran im Stundenbuch, veröffentlicht 1905: «Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem / und mal es auf Goldgrund und groß …»
Eine weitere bedeutende Begegnung war die mit Leonid Pasternak, den Rilke im April 1899 in dessen Moskauer Atelier besucht und sich zeichnen lässt. Viel später, drei Jahre nach Rilkes Tod, wird Pasternak die eigene Zeichnung als Skizze für ein Gemälde heranziehen (siehe Foto oben).
Und dann ist da natürlich noch das «geistige Zusammentreffen» mit Marina Zwetajewa, der eine eigene Abteilung der Ausstellung gewidmet ist. Die Dichterin kam 1922 nach Deutschland, und nachdem sie zunächst einen intensiven Briefwechsel mit Boris Pasternak hatte, kam über eben diesen der Kontakt mit Rilke zustande. Dreieinhalb Monate lang schreiben sie sich, doch als sie ein Treffen anbahnen möchte, zieht sich Rilke, inzwischen an Leukämie erkrankt, zurück. Die beiden werden sich nie begegnen.
Was diese wunderbare «trinationale» Ausstellung leistet, ist bewunderns- und aller Ehren wert. Über Jahre hinweg haben sich die Organisatoren, allen voran der künstlerische Leiter Thomas Schmidt, darum bemüht, aus den entlegensten Winkeln Europas Originale herbeizuschaffen, zum Teil solche, die die Heimat ihrer Privatarchive nie zuvor verlassen hatten. Schmidt ist auch der Herausgeber des mehr als gelungenen Katalogs, für den man gern den stolzen Betrag von 2000 Rubel (€ 30,-) zahlt.