«Documenta können wir auch», lese ich auf einem Asphaltweg am Stadtrand von Kassel – und einige Schritte weiter steht in der gleichen Kreideschrift: «An den Alltagsdingen ist nicht genug Glitzer.»
Der Vorwurf, vieles von dem, was man auf der documenta 14 sehe, sei keine Kunst, oder – nobler ausgedrückt – das Schöne in der Kunst und gar ihr Bezug zum Geistigen sei zu wenig sichtbar, ist nicht neu. Dieser Vorwurf traf und trifft auch die Künstlerinnen und Künstler der Kasseler Ausstellung immer wieder.
Was bei dieser documenta neu ist, sind die Vorwürfe gegen den Kurator selbst: Adam Szymczyks Projekt sei zu ehrgeizig, sagen die einen – zu banal, die anderen.
Szymczyk hat die Gesamtdauer der bisher angelegten Ausstellungdauer um beträchtliche 63 auf 163 Tage verlängert und das Geschehen auf zwei Orte ausgedehnt. Kassel hat einen Doppelauftritt mit Athen. Ein Slogan des Kuratorenteams lautet, die kapitalistische westliche Welt solle von Athen lernen.
Das alles ist für viele eine Zumutung. Das Wohl und die Bedürfnisse des Publikums aber scheinen Szymczyk weniger zu interessieren als die Kultur am Rande Europas und darüber hinaus. Es gehe ihm nicht um Kunst, sondern um politische Theorien, das ist der Hauptvorwurf an diese documenta.
Die Besucherinnen und Besucher muss das nicht kümmern. Dass einzelne Kunstwerke schlecht ausgeschildert und die Begleitbücher teilweise kryptisch sind, können wir sportlich nehmen – es ist eine Anregung zum Selbststudium. Im Gegensatz zur letzten documenta, die von Kulturkritik über herrliche Kunstwerke alles bot und die Stadt mit Wies’n-Stimmung in der Karlsaue verzauberte, sind diesmal eindeutige Entscheidungen gefordert: Entweder (mindestens) zwei Tage documenta oder eine Auszeit mit Wellness für die alltagsmüde Seele. Beides zusammen geht nicht.
Die Kunstbesucherinnen und -besucher sind verloren, wenn sie nur das Schildchen neben dem Kunstwerk lesen wollen, statt die Bilder, Skulpturen, Räume, Videos, Klanginstallationen in sich aufzunehmen. Szymczyk und sein Team vertrauen darauf, dass der Kosmos ihrer Doppelausstellung Entdeckungen und Erlebnisse schenkt, auch wenn der gewöhnliche Kunstbetrieb mit seinen berühmten Namen und biederen Spielregeln nicht wie sonst zum Zug kommt. Das ist ungewohnt, aber eine Chance.
Ich habe mir vorgenommen, die Herausforderung anzunehmen. Auch ist mir der Satz von Beuys im Ohr, dass nur noch die Kunst die Welt verändern könne. Aus dieser Perspektive muss Kunst politisch sein. Dass Kunst trotzdem gut sein kann, beweisen viele der knapp zweihundert Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt, die samischen und ihre indigenen Mitstreiterinnen und Mitstreiter eingeschlossen.
Überall ist Eigeninitiative gefordert: Im Stadtmuseum ist ein Video von Peter Friedel zu sehen. Verschiedenfarbige Menschen inszenieren in verschiedenen Sprachen, nur nicht in Deutsch, hintereinander einen Text. Das Schildchen am Eingang weist auf die Auseinandersetzung mit Kafkas Bericht an eine Akademie hin. Ich sehe mir vorerst anderes an, studiere am Abend Kafkas Erzählung, und am anderen Tag, mit der nötigen Textkenntnis «bewaffnet», begeistert und berührt mich die Arbeit tief. Solche didaktischen Zurüstungen lassen die Dimensionen erkennen, in der viele dieser oft verschlüsselten Werke stehen – wer das unkünstlerisch findet, verschenkt sich auf der documenta 14 viel.