Was sagen uns die großen Manifeste des 20. Jahrhunderts heute? Dieser Frage geht der deutsche Filmkünstler Julian Rosefeldt in seinem neuen Film Manifesto nach, der als Multi-Screen-Installation bereits in einigen Museen aufgeführt wurde und nun, auf neunzig Minuten gekürzt und in lineare Abfolge gebracht, in die Kinos kommt. Die australische Oscarpreisträgerin Cate Blanchett, ohnehin als Schauspielchamäleon bekannt, schlüpft dabei in nicht weniger als zwölf verschiedene Rollen, von dem heruntergekommenen Obdachlosen über die introvertierte Puppenspielerin bis zur tätowierten Punkerin, wobei jede der Episoden ein bestimmtes Manifest thematisiert. Klingt ambitioniert? Das ist Programm.
Der Film gewinnt seinen Reiz aus dem Aufeinanderprallen der theoretischen Proklamationen, die entweder von Blanchetts Figuren oder von ihrer Stimme aus dem Off gesprochen werden, und den alltäglichen Szenen, in die sie eingebettet sind. Das ist manchmal sehr komisch, etwa wenn die spießige Mutter einer gutsituierten Familie vor ihren drei kleinen Kindern zum Tischgebet ansetzt und in feierlichem Ton erklärt: «Ich bin für eine Kunst, die poetisch-erotisch-mystisch ist, die etwas anderes tut, als im Museum auf ihrem Arsch zu sitzen!» Oder die erfolgreiche Geschäftsführerin, die als Gastgeberin einer High-Society-Party mit Karteikarten bewaffnet vor ihre Gäste tritt und in den Worten von Vortizismus-Begründer Wyndham Lewis ausruft: «Ladies and Gentlemen, lang lebe der große Kunst-Vortex!»
In anderen Szenen wiederum passen die Manifeste erstaunlich gut zur in unserer heutigen Zeit verorteten Handlung, wenn etwa die unpersönliche, toughe Welt der Börse auf den aggressiven Fortschrittsglauben der Futuristen trifft. Und wer hätte gedacht, wie gut sich Tristan Tzaras provokanter Angriff auf Werte und Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft – mit würdevollem Ernst von einer verschleiterten und blutrot geschminkten Blanchett vorgetragen – in eine Grabrede einfügt?
Die theoretischen Manifeste gehen in den meisten Episoden allerdings in den kunstvoll komponierten Bildern ein wenig unter. Der Fokus von Manifesto liegt eher auf der stilistischen Perfektion, hier beeindruckt vor allem die elegante Kameraarbeit mit ihren weiten Schwenks durch industrielles Brachland, durch ein gespenstisches Puppenkabinett oder ein klaustrophobisch anmutendes Großraumbüro mit seinem Meer aus Flatscreen-Bildschirmen. Der inhaltliche Gehalt der Texte kommt dagegen nur schwer an. Ganz im Gegensatz zu der herausragenden Cate Blanchett, die sich jede ihrer Figuren in Mimik und Sprachduktus scheinbar mühelos aneignet und den Film mit ihrer funkelnden Präsenz dominiert. Ihr Spiel enthält oft eine ironische Note, etwa wenn sie eine überkandidelte russische Choreographin oder eine aalglatte Nachrichtensprecherin mimt – dabei wirken diese Figuren in ihrer Zuspitzung aber exakt auf den Punkt getroffen.
Eine der stärksten Episoden kommt ganz zum Schluss: Blanchett schreitet als Grundschullehrerin durch die Reihen ihres Klassenzimmers und unterbricht die Kinder mit den Anleitungen aus Lars von Triers Dogma95-Programm: «Nein, Genrefilme sind nicht akzeptabel, okay?» – «Optische Filter sind verboten. Verstanden?» Das ist zum einen natürlich sehr amüsant, zugleich aber auch ein ironischer Kommentar auf den Charakter der Manifeste als solche, die ihre Adressaten, also uns, zu ihren Schülern machen.