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Jean-Claude Lin

Etwas ganz verrückt Besonderes

Nr 218 | Februar 2018

Leben und Werk von Charlotte Salomon

Eine Frau steht am Fenster. Große Augen in einem schmalen, spitzen Gesicht schauen uns an. Die lange Gestalt, in warmem, rotbräun­lichem Rock und Jäckchen mit hellem, gekräuseltem Kragen und Manschetten, steht aufrecht in einem dunkelblauen Raum. Ihre langen schmalen Hände ruhen auf dem Fenstersims. Auf dem zum Bild gehörigen Transparentblatt, das die Künstlerin Charlotte Salomon ursprünglich an das Bild geheftet hatte, stehen in roter Farbe gemalt die Worte:
LANGE STAND SIE SO AM FENSTER – SEHNSUCHTSVOLL UND TRÄUMERISCH
Auf dem daneben gehängten Bild steht wieder eine Frau am Fenster. Jetzt hat sie ihren Rücken zum Betrachter gekehrt. Sie schaut aus dem Fenster heraus. Sie ist in tiefem Blau gekleidet: Rock und Oberteil sind nicht mehr zu unterscheiden – ein wenig Farbe ist noch in den hochgesteckten Haaren zu sehen. Draußen ist auch alles blau – aber heller. Bemerkenswert sind die Hände: die Innenflächen sind uns zugewandt. Auf dem dazu­gehörigen Transparentblatt steht:
LANGE STAND SIE SO – – – JA – SIE STAND AN DIESEM FENSTER – DENN –
Und wie anders ist das dritte Bild in dieser kleinen Reihe innerhalb der 769 Gouachen, die Charlotte Salomon in wenig mehr als einem Jahr von August 1941 bis 1942 an der Côte d’Azur erschuf und zum großen Teil in der Pension La Belle Aurore in Saint-Jean-Cap-Ferrat zu Ende brachte. Das dritte Bild zeigt einen hellen, grünen Raum mit einem offenen Fenster und der Ausssicht auf einen hellblauen Himmel über leuchtend roten Dachziegeln. Auf dem dazugehörigen Transparentblatt stehen die Worte:
JETZT STEHT SIE NICHT MEHR DORT – ACH – AN EINEM ANDEREN ORT – WEILT SIE NUN
Das vierte Bild in dieser kleinen Reihe zeigt fast nur das schmale, spitze Gesicht mit geschlossenen Augen, schönem roten Mund und gelösten Haaren in helleren und dunkleren Erd- und Ockerfarben. Dazu stehen auf dem Transparentblatt die Worte:
MEL.[ODIE] SIE WAR JA NUR – EIN STÜCK NATUR in der linken Ecke (denn man müsse sich vorstellen, erklärt einleitend die Künstlerin, sie hätte summend zu bestimmten Melodien alle Bilder gemalt) und in der rechten unteren Hälfte in brauner Schrift: UND DIE ERDE HAT SIE WIEDER
So hat die am 16. April 1917 in Berlin geborene Charlotte Salomon 1941/42 den Tod ihrer eigenen Mutter Franziska gemalt, die im Juli 1890 auf die Welt gekommen war und sich am 22. Februar 1926 aus dem Fenster in den Tod stürzte. Fast 13 Jahre davor hatte sich die jüngere Schwester der Mutter, deren Name Charlotte sie von der Mutter erhalten hatte, in einer Novembernacht ertränkt. Doch dies alles, wie auch die zwei vorangegangenen Selbstmorden in ihrer jüdischen Familie, erfuhr sie erst 1940 von ihrem Großvater, als ihre Großmutter es auch beim zweiten Versuch geschafft hatte, sich mit einem Sprung aus dem Fenster zu töten. Nach Villefranche an der Côte d’Azur waren die Großeltern vor den Nationalsozialisten geflohen, wo sie groß­zügig von der Amerikanerin Ottilie Moore aufgenommen und versorgt wurden. 1939 hatte Charlotte Salomon ebenfalls noch zu ihnen fliehen können.
Im «Nachwort» zu ihrem so einzig­artigen Werk Leben? Oder Theater?, das sie «Ein Singespiel» nennt, schreibt sie, wie sie sich vor die Wahl gestellt fühlte: entweder wie ihre Vorfahren ihrem Leben ein Ende zu setzen, oder «etwas ganz verrückt Besonderes zu unternehmen». Sie hat das Letztere zu unserem Glück und unserer unermesslich tiefen Berührung gewählt und einen Zyklus von 769 Bildern geschaffen, mit Schrift und Melodien ver­sehen, die ihr Leben und doch nicht nur ihr eigenes irdisches Leben ab­bildeten: die auch ihr verschlossenes Inneres und über sich selbst herausragendes Wesen bildeten – und die von ihrer großen, all die Jahre geheim gebliebenen Liebe erzählen.

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