Das Leben kann sich manchmal in einer Sekunde ändern. Für 19 Schüler einer Abiturklasse in der DDR änderte es sich binnen einer Minute. 1956, als sowjetische Panzer durch Budapest rollen und den Volksaufstand in Ungarn niederschlagen, entschließen sie sich zu einer Schweigeminute während des Unterrichts, um der gefallenen Ungarn zu gedenken. Es ist keine kalkulierte politische Aktion, sondern eine spontane menschliche Geste – frei aus dem Herz heraus.
Das aber sehen die Offiziellen in der DDR nicht so. Der Aufstand in Ungarn gilt dort als Konterrevolution gegen die Idee des Sozialismus. Die Schüler geraten ins Visier des Staatsapparates. Um herauszubekommen, wer die Schweigeminute initiiert hat, werden sie einzeln verhört. Doch die Klasse hält zusammen, niemand gibt einen Namen preis. Schließlich reist sogar der Volksbildungsminister an und stellt den Jugendlichen ein Ultimatum: Innerhalb einer Woche sollen die «Rädelsführer» benannt werden, sonst werde die ganze Klasse vom Abitur ausgeschlossen.
So stehen die Abiturienten vor einer Prüfung ganz anderer Art. Es beginnt eine Probe auf Integrität und Zusammenhalt, auf Freundschaft oder Eigennutz, die man in Lars Kraumes neuem Film Das schweigende Klassenzimmer hautnah miterlebt. Gebannt erlebt man dies als Zuschauer mit, weil man bis zu diesem Punkt der Handlung die jungen Menschen kennengelernt hat, als wäre man Teil der Klasse. Immer wieder betritt man mit ihnen das Klassenzimmer, ist bei ihren Abenteuern dabei oder begleitet sie auf ein verfallenes Hofgut, wo sie den Westsender RIAS hören, zu Boogie Woogie tanzen und das Leben spüren.
Der Film – und wir – folgt ihnen auch in ihre Familien und veranschaulicht den Druck, der nicht nur von Seiten des Staates, sondern auch durch die Eltern auf den Schülern lastet, sich durch Denunziation die Zulassung zum Abitur zu erkaufen.
Die Intensität, die daraus erwächst, wird verstärkt durch das Wissen, dass diese Situation real war. Das schweigende Klassenzimmer beruht auf dem gleichnamigen Tatsachenbericht von Dietrich Garstka, einem Schüler jener 12. Klasse in Storkow, die vom Staat erpresst wurde. Angesichts einer Verfilmung war ihm «ein wenig bang», da die Dramaturgie eines Filmes leicht vom eigenen Erleben abweichen könne. Mit Kraumes Film ist er nun allerdings hoch zufrieden: «Bei jedem Bild dachte ich: ‹Aha. Ja, so war’s. Das hat sich so ereignet.› Alles treffsicher. Die Erinnerung wurde wach und die Gefühle waren genau die gleichen, wie vor sechzig Jahren.»
Lars Kraumes Drehbuch führt nicht nur zu einer authentischen Wiedergabe des Geschehenen, es eröffnet auch einen vertieften Blick auf die Beweggründe der Charaktere indem es deren Verstrickungen in die deutsche Geschichte aufzeigt und den familiären Zusammenhängen nachgeht. Eine hervorragende Auswahl an Schauspielern – insbesondere der Auftritt einer Riege vielversprechender junger Talente (so erhielt u.a. Jonas Dassler jüngst den Bayerischen Filmpreis 2018 als Bester Nachwuchsdarsteller) – tut ihr Übriges, dem Film Tiefe und Ausdruckskraft zu geben.
Wie auch bei Kraumes Film Der Staat gegen Fritz Bauer wird die Atmosphäre im Nachkriegsdeutschland greifbar. Während Fritz Bauer in der jungen Bundesrepublik spielt, richtet Kraume den Blick nun auf die andere Seite der innerdeutschen Grenze. Beide Filme zeigen die Schwierigkeiten beider Gesellschaften, aus der Katastrophe des Dritten Reiches heraus einen Weg in die Zukunft zu finden. Welchen Weg die Schüler aus ihrer fatalen Situation wählen, sei an dieser Stelle nicht verraten. Gehen Sie ins Kino – Sie werden es nicht bereuen!