Dem Pianisten Fazil Say begegnete ich Mitte Juni bei meinem erneuten Besuch im kleinen Saal der Hamburger Elbphilharmonie. Die massiven Holzwände und sogar die für mich zunächst befremdlich offene und mit Technik gespickte Decke erschienen mir diesmal vertrauter und lebendiger. Auf meinem Platz in dem 500 Zuhörer fassenden Saal ging mir vor dem Konzert der Gedanke durch den Sinn: Wie soll die Einweihung eines neuen Konzerthauses anders als durch die dort gespielte Musik und die Anwesenheit derer geschehen, die als Musiker und Hörer jeweils ihren Teil der persönlichen Liebesbeziehung zwischen Mensch und Musik ausleben?!
Aufgefallen war mir Fazil Say als Duo-Partner von Patricia Kopatchinskaja durch sein pointiertes Spiel und seine Sensibilität für das, was erst aus dem musikalischen Dialog hervorgehen kann. Ich hatte aber bisher nur Ton- und Filmaufnahmen gesehen. So war ich voller Spannung und Vorfreude, wie er an diesem Abend mit der Mezzosopranistin Marianne Crebassa zusammenspielen würde.
Was sich als einmaliges Klanggebilde zwischen den Musikern und ihrem Konzertpublikum entfaltet, trägt ja immer einen Zauber in sich, der durch keine noch so ausgefeilte künstliche Klangwiedergabe erreicht werden kann. Über die künstlerische Zusammenarbeit fand ich später einen Satz der Sängerin im Programmheft, der meinen Eindruck des Konzertabends bestätigte: «Manchmal gerieten wir in eine Art Trance, als ob um uns herum nichts mehr existierte.»
Es ist diese Art intensivster Hingabe Fazil Says an die Klänge, die mich vom ersten Stück an für ihn einnehmen. Der mechanische Apparat des Klaviers scheint für diesen 1970 in Ankara geborenen Künstler keinerlei Fremdheit oder Widerstand zu bieten. Mit kindlicher Anmut findet er den Weg aus der musikalischen Intention seiner Seele über den bewegten Körper, über Tasten und Saiten des Flügels, zum flüchtigen Zeitwesen der Töne und Klänge des Werks, dessen sinnlicher Erscheinung er dient – als würden seine Hände und Füße nach einem Spielzeug greifen und sich an der überraschenden Reaktion des tönenden Instruments freuen.
Anders erlebe ich, besonders in den langsamen Sätzen, sein ernstes Bemühen um den stimmigen Augenblick: Wie jeder Liebhaber zu seinem Rendezvous mit der Geliebten genau dann präsent sein muss, wenn sich der Dialog der Liebe am besten entfalten kann, so reizt er das Zögern bei den musikalischen Längen bis zum Äußersten aus und verpasst auch bei den abenteuerlich schnellen Läufen niemals den Genuss der kurzen Begegnung mit jedem Ton.
Bei den Filmaufnahmen, die ich über ihn kannte, hatte ich bemerkt, dass Fazil Say beim Musizieren fast durchgängig die Lippen bewegt – ein stummes Sprechen oder gar Singen, mit der er die Choreographie seiner Bewegungen am Klavier begleitet. An diesem Abend in der Elbphilharmonie fällt mir erstmals auf, dass er vor allem mit seiner rechten Hand – wenn sie denn im Spiel der Tasten gerade nicht gefragt ist – wunderbare Bewegungen in die Luft zeichnet. Es ist keine der Tonerzeugung dienende «Arbeit» mit den Tasten, sondern er begleitet in zurückhaltenden Gebärden sichtbar die klingende Luft auf ihrem Weg vom Instrument in Richtung Konzertpartnerin und Publikum. Damit fügt er hingebungsvoll dem ersten Teil der musikalischen Entfaltung der Klänge den Ansatz zu einem zweiten Teil des Geschehens hinzu: Er übergibt das weitere Werk des musikalischen Schaffens an die Hörer. Als ein solcher Mitschöpfer der Musik fühle ich mich an diesem Abend vom diesem bemerkenswerten Pianisten eingeladen.