Mit der Wahl von Teodor Currentzis zum ersten Chefdirigenten des aus den symphonischen Klangkörpern des ehemaligen «Südwestfunks» bzw. «Süddeutschen Rundfunks» hervorgegangenen «SWR Symphonie Orchester» haben die Verantwortlichen einen Coup gelandet. Denn Currentzis – in der Klassikszene en vogue – ist einer der profiliertesten Dirigenten seiner Generation, der mit seinem im russischen Perm beheimateten Orchester und Chor Anima Eterna aufsehenerregende Aufnahmen vorgelegt hat. Äußerst temperament- und ausdrucksvolle Interpretationen der drei Da-Ponte-Opern Mozarts sind bei Sony erschienen. Wunderbar warm klingen die mit Darmsaiten bespannten Streichinstrumente des Orchesters, statt Cembalo hört man ein Hammerklavier als Rezitiativbegleitung. Das Gesangsensemble ist hervorragend.
Aber auch in der jüngeren Orchesterliteratur ist Currentzis zu Hause. Igor Stravinskys Sacre du Printemps interpretiert Currentzis hochenergetisch und temporeich; vom selben Komponisten gibt es eine russisch-folkloristische Lesart von Les Noces, wobei neben wunderbaren Solisten ein überaus klar disponierter Chor zu hören ist. Man wird quasi Ohrenzeuge einer russischen Bauernhochzeit.
Zusammen mit der in vielerlei Hinsicht außerordentlichen Geigerin Patricia Kopatchinskaja ist auf demselben Album ein gegen den Strich gebürstetes, von jeglichem Zuckerbäckerstil befreites Tschaikovsky-Violinkonzert zu hören. – Currentzis entstaubt die Werke, hierin vollkommen einig mit Kopatchinskaja, entreißt sie der Routine und legt sie manchmal bis zur Schmerzgrenze offen.
Vibrato lehnt er zwar nicht vollkommen ab, will es aber bewusst und gezielt eingesetzt wissen. Die Pauken setzen vermehrt Lederschlägel statt solcher aus Filz ein, damit werden die Akzente hart, aber auch präzise. Artikulation und Phrasierung werden neu durchdacht und zeigen die Werke von einer enorm spannenden, oft ungekannten Seite. Erfrischend Neues ist so zu hören.
Neu ist auch, dass der Dirigent wenige Tage vor den Konzerten mit dem SWR Symphonie Orchester zu einem «Currentzis LAB» lädt. Abendfüllend wird hier in einem Werkstattgespräch mit Musikbeispielen dem interessierten Auditorium das Werk und seine Interpretation erläutert.
Für sein Antrittskonzert in Stuttgart wählte Currentzis Mahlers 3. Symphonie – ein Koloss in Besetzung wie Dauer. Man mag diesem Start ablesen, dass Orchester wie Dirigent wahrhaft Großes vorhaben. Dass Currentzis solchem gewachsen ist, konnte er bereits mit seiner Auslegung von Bruckners Neunter Symphonie in der vergangenen Spielzeit beweisen, die er ohne Pause in György Ligetis Lontano übergehen ließ. – In der aktuellen Spielzeit stehen die Symphonien Mahlers und Schostakowitschs im Mittelpunkt. Es geht also mit Meilenstiefeln weiter.
Wie vielseitig Theodor Currentzis agieren kann, bewies er zuvor mit einem «Surprise-Konzert»: Das Publikum erfuhr erst im Nachgang, was es gehört hatte: Einem Werk für Klavier und Ensemble des Zeitgenossen Marko Nikodijevic (Gesualdo dub / Raum mit gelöschter Figur) folgte eine historisch informierte, temporeiche und tänzerische Siebte Beethovens. Nach der Pause war zu erleben, wie erfrischend, lebendig und vielseitig die Musik des Barock-Komponisten Jean Philippe Rameaus sein kann.
Teodor Currentzis vermag sein neues Orchester zu wirklich Großartigem zu inspirieren. Und das Publikum dankt es ihm mit rauschendem Applaus. Für die weitere Spielzeit sind die Erwartungen entsprechend hoch. Currentzis verfügt über die Fähigkeit, sie zu erfüllen.