Titelbild Hochformat

Albert Vinzens

Poesie des Ich

Nr 228 | Dezember 2018

Der Verlag AQUINarte hat in diesem Jahr innnerhalb seiner «aquinarte edition» drei neue Publikationen auf den Markt gebracht. Damit sind in dieser Reihe inzwischen sieben Titel im handlichen Format (14,5 x 18,5 cm) und bibliophilen Outfit erschienen.
Weiß ist der Grundton, beim Bütteneinband mit Prägedruck, genauso wie bei den einzelnen Blättern, wo pro Textseite meist nur wenige konzentierte Zeilen auftreten. Der Rest bleibt gewissermaßen dem Ungesagten über­lassen. Die in der verlags­eigenen Presse produzierten Bücher haben eine Auflage von jeweils 120 Exemplaren, von denen jedes einzelne eine handgedruckte Serigraphie auf Japanpapier enthält. Jetzt muss nur noch der Inhalt stimmen – und das tut er.
Alle drei Ausgaben handeln auf ihre Weise vom menschlichen Ich. Die dem Ich des Autors gegenüberstehenden Lesenden sind dazu eingeladen, mit ihm in Resonanz zu gehen oder, wenn dies nicht gleich gelingt, den Umweg über das eigene Denken zu nehmen.
Salvatore Lavecchia liefert philosophische Verdichtungen zur Ichsamkeit. Er beginnt mit der Einstimmung in das Rätsel des Fragens und postuliert gegen Ende der Ausführungen eine «Bildung zur Ichsamkeit», die er als ästhetische Erziehung «zur Unschuld, zum Schenken» versteht. Solche Erziehung, so legen die Ausführungen nahe, ersetzt die Akkreditierbarkeit bloß akade­mischen Philosophierens durch eine höhere, lebendigere Schwingung unabgezirkelter Frageprozesse. Ich-affin und mit unterschwellig italienischem Temperament holt uns der Autor auf das Energiefeld des Denkens, anstatt nur von außen dessen Ränder zu beschreiben.
Jean-Claude Lin bringt 29 Gedichte, meist in Deutsch, manchmal zusätzlich in Englisch und Französisch. Es sind herznahe, einfache, auf das strenge Maß des Haiku komprimierte Szenen aus dem Alltag. Wie Schuberts Moment Musicaux atmen Lins Momentaufnahmen Tiefe und gleichzeitig Bescheidenheit. Der Autor, schon durch seine Herkunft in verschiedenen Kulturen und Sprachen zu Hause, zeigt, wie die Welt der großen und kleinen Lebensdinge in der Gegenwärtigkeit des angedeuteten Gedankens lebt:

Schwindendes Novemberlicht
und mein Mann hat geschlafen
sagtest du


Oder:

Wo weilst du jetzt?
Bei meiner Cigarette
rascheln die Pappeln


Matthias Duderstadt bittet an die hundert Wörter auf die Bühne, bündelt sie zu Triaden. Diesen gibt er poetische Titel, wie damals Paul Klee seinen Bildern, und erzeugt dadurch eine Denkspannung. In den ausgewählten Wörtern kommt das Morphem «ich» als Wortteil vor: weiblich mütterlich und männlich väterlich, Gesicht und Gewicht, erblich, hässlich oder zögerlich; redlich, mündlich und schriftlich, sichtlich überheblich. Oder brüderlich-schwesterlich-freundschaftlich-verantwortlich-versöhnlich. In der Jonglage solcher Wörter entfaltet Duderstadt eine veblüffende Phänomenologie des Ichs, wie sie sich unbemerkt durch die deutsche Sprache zieht.
Vielgestaltig bewegen die drei Autoren das Geheimnis des Ichs, nirgends beliebig oder heroisch, vielmehr existentiell. Die unaufdringlich erscheinenden Büchlein führen direkt in die Abgründe und Erhebungen der Philosophie. Mehr als einmal ist die Wahrheit zum Greifen nah, doch die Autoren scheinen anderes im Sinn gehabt zu haben als die Reduktion ihres individuellen Ichs auf die Wahrheit.