Am 15. März 1941 schloss Jawlensky seine Augen zum letzten Mal. Neunzehn Jahre lang lebte der Maler wieder in Deutschland, in Wiesbaden. Sieben Jahre vor seinem Tod hatte er begonnen, die letzte seiner großen Serien zu malen, die Meditationen: jene tausendfach variierten, stark vereinfachten Anlitze mit geschlossenen Augen auf zumeist gedämpftem farbigem Hintergrund (wie die hier gezeigte Große Meditation: Harmonie in Rot aus dem Jahr 1937). Das Malen war ihm wegen der einige Jahre zuvor einsetzenden Arthritis deformens äußerst mühsam. In einem Brief an Emil Nolde schrieb er, wie diese letzten Arbeiten zustande kamen: «Ich lebe die ganze Zeit nur in meinem Zimmer, komme nirgends hin, kann nicht gehen, sitze vor der Staffelei, die Palette auf den Knien, Pinsel haltend mit zwei Händen und arbeite mit brennendem Gefühl diese kleinen Bildchen und auch etwas größere, ich meditiere, es ist wie ein Gebet. Ich leide sehr, wenn ich arbeite, meine Ellbogen und Hände schmerzen unendlich, bin oft erschöpft und sitze mit Pinsel in Hand, halb ohnmächtig. Und ich arbeite den ganzen Tag und niemand versteht, was ich male. Traurig, aber das ist mein Leben.»
Roman Zieglgänsberger hat eine schöne Einführung in das Leben und Werk Alexej Jawlenskys geschrieben, der das obige Zitat entnommen ist; diesem hat er eine eindrückliche Beschreibung der Wirkung eines solchen Meditationsbildes hinzugefügt: «Die stets geschlossenen Augen, denen wir uns dann vis-à-vis direkt gegenübersehen, der gleichmäßige Takt des ruhig gezogenen Pinselstrichs, mit dem der Künstler sein eigenes Ein- und Ausatmen sowie den Rhythmus seines Herzschlags in die Bilder einbringt, und die dunkle, in uns sonor nachhallende Farbigkeit lassen die Grenze zwischen uns und diesen durch und durch meditativen Bildern verschwimmen.»
Er müsse aus den Tiefen seiner Seele malen, da er nicht mehr in der Welt sein könne, schreibt Jawlensky in einem seiner letzten Briefe an die junge Freundin Galka Scheyer, die eifrig Ausstellungen seiner Bilder in Deutschland und den USA organisiert. «Die Bilder sind meistens dunkel, aber das ist mir sehr lieb. Die Farben sind so geheimnisvoll, so tief; aber es gibt auch sehr farbig leuchtende, brennende, aber immer irgendwo aus anderer Welt.»
Drei Jahre vor seinem Tod hat Jawlensky nicht mehr malen können. Auch beidhändig nicht mehr. Aber 1937 hat er noch im Rollstuhl sitzend mit seinem Freund Adolf Erbslöh die Reise zur Ausstellung Entartete Kunst in den Münchner Hofgartenarkaden unternommen und dort seine zwei angeprangerten Gemälde und mehrere Papierarbeiten mit eigenen Augen sehen können.
Groß waren die Augen seiner Seele, mit der er die Welt und die Menschen angeschaut hat. Immer wieder sind sie in seinen gemalten Antlitzen zu sehen, wie in dem Bild Heilandsgesicht: Erwartung aus dem Jahr 1917, das aus einer anderen Serie von ihm stammt, als er in St. Prex am Genfer See im Schweizer Exil lebte. Hier war es auch, dass er 1914, unendlich traurig aus dem Fenster seiner kleinen Wohnung schauend, die erste seiner zahlreichen Variationen eines landschaftlichen Themas schuf: Der Weg, Mutter aller Variationen. Aus Sankt Petersburg war Alexej von Jawlensky Anfang November 1896 nach München mit seiner älteren Freundin, der Künstlerin Marianne von Werefkin, angereist, um sich mit ihr zusammen als Maler weiter auszubilden. Als Sohn einer alteingesessenen Offiziersfamilie hatte auch er zunächst eine Offizierslaufbahn betreten. Mit achtzehn dann, beim Besuch der Altrussischen Industrie- und Kunstausstellung 1982 in Moskau, hatte er seine wahre Berufung empfunden: Maler werden. Im Frühjahr 1896 hatte er endlich seine Entlassung erhalten. – Von nun an lernte er, das Göttliche in seiner Seele durch seine Kunst leuchten zu lassen.