Das Thema «Ausländer und Integration» wird uns noch lange beschäftigen, ob wir wollen oder nicht. Es lebten und leben immer Menschen neben uns, die «anders» sind. Und offensichtlich ist es kein Patentrezept, sie einfach am Rande unseres Weltbildes zu vergessen oder sie in abgelegenen Zonen der Gesellschaft zu belassen. Konflikte und Problembereiche entstehen. Die anderen sollen sich integrieren.
Doch was steckt hinter dieser Vorstellung? Praxisnah und historische Erfahrungen einbeziehend, gibt der Pädagoge Christoph Doll Antworten zu diesem Thema. Bevor er Dozent am Waldorflehrerseminar in Berlin wurde, war er einer der maßgeblichen Mitgestalter der Freien Interkulturellen Waldorfschule in Mannheim-Neckarstadt/West. Als Klassenlehrer unterrichtete er sechs Jahre lang eine von der Herkunft her bunt gemischte Schülerschaft in einem Mannheimer Arbeiterviertel. Jeder weiß es aus eigener Erfahrung: Begegnungen, die uns weiterbringen können, brauchen Zeit, brauchen offene Bedingungen, damit etwas Gemeinsames entsteht.
Doris Kleinau-Metzler | Herr Doll, welche Lebenserfahrungen sind wichtig für Sie gewesen, um mit der Vielfalt Ihrer Schüler zurechtzukommen?
Christoph Doll | Nach dem Abschluss der Realschule habe ich eine Lehre als Industriemechaniker, Fachrichtung Metall, gemacht. Als rebellischem Jugendlichem tat es mir einfach gut, in der Firma Erwachsenen zu begegnen, die eine große Klarheit hatten. Diese Menschen hatten nicht den Anspruch, die ganze Welt umzukrempeln, aber sie waren sehr kompetent in ihrem Bereich und zudem zufrieden mit ihrer Arbeit und ihrer Familie. Davor habe ich als Jugendlicher richtige Achtung bekommen und meine vorherigen Vorstellungen und Vorurteile korrigieren können. Nach meiner Lehre habe ich zwanzig Monate Zivildienst als Rettungssanitäter und in einem Altersheim gemacht und danach die Waldorflehrerausbildung in Mannheim begonnen. Vierzehn Jahre war ich dann Klassenlehrer an der Waldorfschule in Karlsruhe, bevor ich Lehrer an der Interkulturellen Waldorfschule in Mannheim wurde.
DKM | Was ist das Besondere an dieser interkulturellen Schule?
CD | Entscheidend ist, dass eine Gruppe von Menschen gesagt hat: Wir wollen Waldorfpädagogik dorthin bringen, wo es bisher so etwas nicht gibt, weg vom Stadtrand, hinein in die Gebiete, die als soziale Brennpunkte gelten und in denen viele Kinder mit ausländischen Wurzeln leben. In der Schülerschaft sollte sich das gesamte soziale Spektrum der Menschen unserer Gesellschaft finden, aus allen Schichten, Berufen, Religionen. Für mich bieten Waldorfschulen als Gesamtschulen mit ihrer Praxisorientierung und ihren musisch-künstlerischen Unterrichtsinhalten die idealen Voraussetzungen, damit Kinder und Jugendliche lernen, vorurteilsfrei miteinander umzugehen. Ganz lebensnah erhält man durch das gemeinsame Tun von der ersten Klasse an immer wieder Anstöße, Verständnis für andere Kulturen zu entwickeln (zumal auch viele Mannheimer Lehrer keine gebürtigen Deutschen sind).
DKM | Aber manche Unterschiede, von Ernährung bis hin zu Religion und Musik, wirken auf uns zunächst fremd.
CD | Entscheidend ist, eigene innere Barrieren dem anderen Menschen gegenüber zu erkennen und sich zu bemühen, ihn zu verstehen. Ich muss ja nicht alles gut finden, was mir als Fremdes entgegenkommt, aber ich sollte den anderen nicht als Erstes mit meiner Wertung entgegentreten. So hat mir zum Beispiel mein Mannheimer Kollege, der Musik und Bewegung unterrichtete, die orientalische Musik nähergebracht, gesanglich und auch theoretisch. Er sagte: «Ich habe an dieser Musik, an diesen Improvisationen, die für dein Ohr so breiig und geleiert klingen, innere Erlebnisse. Meine Mutter hat mir so Wiegenlieder vorgesungen.» Mir wurde klar, dass das eine völlig andere Art ist, Musik, Welt innerlich zu hören. Wenn ich mit Menschen verschiedener Herkunftsländer zusammen bin, darf ich nicht unberücksichtigt lassen, dass sie von anderen Eindrücken tief geprägt sind.
DKM | Was ist nach Ihrem Eindruck wesentlich, damit Eltern, die sonst für ihre Kinder nicht an den Besuch einer Waldorfschule denken, Vertrauen zu der Interkulturellen Waldorfschule haben?
CD | Es kommt sehr auf die Menschen an, denen sie begegnen. Das Klima und die Ausstrahlung der Schule entscheiden letztlich immer darüber, ob jemand (wenn er die Wahl hat) sein Kind einer Schule anvertraut. Zunächst wurden in Mannheim durch Besuche in Kindertagesstätten und Gespräche auf Straßenfesten erste persönliche Verbindungen aufgebaut. Immer wieder ist bei der Begegnung von Mensch zu Mensch entscheidend: Wie empfinde ich, wenn mir jemand mit Kopftuch oder sonst wie anders gekleidet, als ich gewohnt bin, gegenübersteht? Irritiert mich das, ist es wie ein Stückchen innerliches Abrücken, das ein offenes Begegnen erschwert? Oft denkt man nicht bewusst ablehnend, es ist mehr eine Art Gefühlsurteil. Wenn wir das ehrlich registrieren, können wir daran arbeiten. Ich nenne das «vorurteilsbewusstes Begegnen».
DKM | Manchmal vermischen sich Eindrücke, Zeitungsmeldungen und die Angst, etwas falsch zu machen, zu einer Skepsis. Wie damit umgehen – denn man verbaut sich durch so eine Haltung letztlich ja selbst neue Erfahrungen?
CD | Der erste Schritt ist immer meine ehrliche Selbstwahrnehmung, dass ich dieses Gefühl an mir registriere. Als Zweites kann ich überlegen, warum das so ist, und als Drittes frage ich mich, wie dieses Gefühl in mir lebt – vielleicht in abschätzigen Wertungen, Ironisierungen. Man hat immer wieder Anlass und Möglichkeit, an sich zu arbeiten.
DKM | Ein Grund von Vorurteilen ist vielleicht auch Angst vor dem Fremden – die durch Sensationsmeldungen und Schlagzeilen in manchen Medien zudem aufgebauscht wird.
CD | Wir leben in einer Gesellschaft, die mit der Angst als Anschauung lebt, vom täglichen Krimi bis zu Existenzängsten. Ausdruck davon ist das Versicherungswesen, denn wir versuchen alles abzusichern. Dabei vergessen wir, dass es keinen absoluten und hundertprozentigen Schutz für unser Leben gibt. Auch im Sozialen ist Angst ein Leitmotiv, wie die Werbung eindrücklich zeigt – Angst, nicht mithalten zu können, nicht schön und fit genug zu sein. In der Gesellschaft wird ein großer Druck aufgebaut, angefangen bei dem Motto «Was denken die Leute, wenn die Kehrwoche nicht gemacht ist?» über den Beruf, wo das Tempo immer höher wird, bis hin zu Jugendlichen, bei denen ein gängiger Spruch ist: «Das ist voll peinlich.» Hinter allem steht die Angst, aufzufallen, Erwartungen nicht zu entsprechen. In den Begegnungen zwischen Menschen gibt es eine große Angst, sich frei zu geben.
DKM | Anpassungsdruck ist demnach keine gute Voraussetzung, um anderen Menschen offen zu begegnen. Wie ist Integration von Menschen aus anderen Kulturen dann möglich?
CD | Zu meinem Verständnis von Integration gehört zunächst, dass uns bewusst wird: Wir leben heute in einem Land, der Bundesrepublik Deutschland, das aus sehr vielen Quellen gespeist wurde, wenn man es geschichtlich betrachtet. Was heute ist, wurde im Laufe von Jahrhunderten immer wieder bereichert durch verschiedene Kulturen und Völker.
DKM | Also nicht nur die USA ist so eine Art Schmelztiegel?
CD | Sicherlich nicht, bei uns kamen ebenfalls zahlreiche Impulse zusammen, auch viele aus dem Orient. Das ist wie ein Fluss, der alle möglichen Nebenarme aufgenommen hat, um zu dem zu werden, der er ist. Er hat einen bestimmten Namen, wird aber aus unterschiedlichen Gewässern gespeist. Das ist ein beständiger Prozess, der immer wieder, auch heute, stattfindet. Ob und wie wir davon bereichert werden, ist sicher nicht sofort und nicht eindeutig zu beantworten. Häufig entstehen durch neu Hinzukommendes auch Probleme, das gehört zur menschlichen Gesellschaft dazu. Aber als Gesamtes kann man sagen, dass uns die verschiedenen Einflüsse bereichern, erfrischen.
DKM | Ein Blick zurück in die Geschichte, auch der letzten zwanzig Jahre, zeigt, dass immer wieder überraschende Prozesse zustande kommen. Was gehört für Sie konkret zum Bereich der notwendigen Integration?
CD | Zunächst sollten wir erkennen, dass es bei der öffentlichen Diskussion des Themas in der Regel nicht um Integration von Ausländern oder Einwanderern geht, sondern dass eine soziale Problematik dahintersteht. Um in der Fremde ein Stück Heimat zu haben, ziehen sich Menschen in Gruppen mit ähnlicher Herkunft zurück, besonders wenn sie keinen Beruf haben, der ihnen gesellschaftliches Ansehen verspricht, sie arbeitslos sind und staatliche Unterstützung beziehen. Dieser Tendenz wurde lange auch städtebaulich nichts entgegengesetzt, sodass diese Menschengruppen isoliert wohnen. Und ihre Kinder gehen auf Schulen, in denen sie fast völlig unter sich sind. Das muss durchbrochen werden, denn bei den Kindern ist der Zusammenfluss, hier liegt die Chance, Integration und Gemeinschaft erlebbar zu machen. – Viele Untersuchungen belegen, dass Kinder aus Elternhäusern von sogenannten «bildungsfernen Schichten» kaum eine Chance haben, einen höheren Schulabschluss zu erwerben; damit wird ihre Sonderstellung weiter gefestigt, und die Probleme setzen sich fort. Entwicklungsförderung bis zum zehnten Lebensjahr ist entscheidend für die späteren Bildungschancen, ebenso für die soziale Offenheit eines Menschen. In diesem Alter wird zudem die Bildung des Menschen als Gesamtes – ich meine nicht die Allgemeinbildung – angelegt: Hier findet auch die Vermittlung von Werten statt, die für jeden Menschen wichtig sind, dazu gehört beispielsweise das Empfinden für Andacht und Ehrfurcht und das Staunen über die Großartigkeit der Natur und über alles, was um sie herum ist. Wenn in diesem Grundschulalter keine Begegnung mit Kindern aus unterschiedlichem sozialem und kulturellem Hintergrund stattfindet, erschwert man soziales Lernen. Das Kind, mit dem ich spielen, streiten und mich wieder versöhnen kann, steht mir nahe. Mit diesen Erfahrungen kann man auch anders mit bestimmten Problemen in der Pubertät umgehen, wo sich Jugendliche stärker mit ihrer Herkunft, ihrer Nationalität identifizieren.
DKM | Wie müsste unser Bildungssystem verbessert werden, damit wir die Integrationsproblematik, sozial und kulturell, besser bewältigen, statt ängstlich darauf zu blicken?
CD | Ich bin überzeugt davon, dass es kein System, kein Modell geben wird, das quasi automatisch soziale Integration ermöglicht – es kommt auf die Menschen an, auf die Pädagogen, egal in welcher Schulform! Deshalb ist entscheidend, dass alle Lehrer schon in ihrer Ausbildung daran arbeiten, was vorurteilsbewusste Begegnung ist, also an sich selbst arbeiten. Als Zweites denke ich, dass es notwendig ist, dass Schulen freigelassen werden, damit sich jede Schule, jede Lehrerkonferenz ihr eigenes Profil, was ihnen am Wichtigsten ist, erarbeiten kann. Der pädagogische Impuls, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern, geht immer wieder von einzelnen Menschen aus, die andere Lehrer dann anregen und mitziehen. Wenn Pädagogen an staatlichen Schulen könnten, wie sie wollten, gäbe es nach meiner Ansicht viel mehr vorbildliche Schulen, an denen eine offene und fördernde Atmosphäre herrscht. Ich hoffe auch, dass der Impuls der Interkulturellen Waldorfschule Mannheim sich ausweitet und in zehn Jahren in jeder großen Region mindestens eine Interkulturelle Waldorfschule besteht.
«Wenn ich mit Menschen verschiedener
Herkunftsländer zusammen bin,
darf ich nicht unberücksichtigt lassen,
dass sie von anderen Eindrücken tief geprägt sind.»