ChrisTine Urspruch im Gespräch mit Ralf Lilienthal

Irgendetwas ist anders

Nr 135 | März 2011

Als ChrisTine Urspruch, die einmeterzweiunddreißig kleine Tatort-Pathologin «Alberich» im Münsteraner Skurril-Team um Axel Prahl und Jan Josef Liefers, den Raum betritt und auf den Interviewer zuschreitet, erscheint sie mit jedem Schritt größer und gegenwärtiger. Und dass die Tatortbildregie ihr ausdrucksstarkes Gesicht gelegentlich formatfüllend einblendet, versteht er unmittelbar. Ihre Antworten sind unprätentiös und knapp, offen und freundlich und werden gelegentlich durch ein höchst erfrischendes, halb erstauntes «Ja, genau?!» auf den Punkt gebracht.

Ralf Lilienthal | Frau Urspruch – wer Ihre Berufsbiografie rückwärts verfolgt, findet die Schauspielerei bereits in der Schulzeit dokumentiert. Worin wurzelt diese Leidenschaft?

ChrisTine Urspruch | Kürzlich sah ich meinen Kindergartenfreund Axel im Fernsehen wieder. Auch er ist Schauspieler geworden. Wir waren ganz inniglich befreundet und haben, angefangen mit Winnetou und Old Shatterhand, stundenlang alles nachgespielt, was wir kannten. Da war eine kindliche Lust am Spielen, an der Geschichte. Auch das Fernsehen spielte eine große Rolle. Immer wieder habe ich mitgesprochen, die Tagesschau zitiert, oder: «Guten Abend, hier ist der Bericht aus Bonn».

RL | Vor welcher sozialen Kulisse spielten sich diese Szenen ab?

CU | Mein Vater war selbständiger Bandweber, im Bergischen Land ein altes traditionelles Gewerbe. Das bedeutete viel Arbeit, viel Maschinenlärm. Meine Mutter hat die Buchführung gemacht, selbst meine beiden älteren Schwestern und ich haben gelegentlich mitgeholfen. Trotz aller Arbeit wurde aber auch auf Bildung ge­achtet und viel gelesen. Dabei war das Grundkennzeichen unserer Familie: Beständigkeit.

RL | In Ihrer Kindheit gab es, im Hinblick auf die Diagnose «Klein­wüchsigkeit», ein Vorher und Nachher – wie hat das Kind ChrisTine Urspruch diese Lebenswende erlebt?

CU | Nicht als ein Ereignis. Das war ein Prozess. Ein Wechsel von Erkennen, Verdrängen und Wiederhingucken. Am Anfang stand eine Operation meiner Beine. Ich habe gespürt: Irgendetwas ist anders, aber irgendwie krieg ich’s auch geregelt. Das war ganz nüchtern. Erst der Kindergarten, dann werde ich operiert, und dann komme ich in die Schule. So! Einschneidend war dann die Zeit im Krankenhaus. Das waren nur ein paar Wochen, im Rück­blick kommt es mir aber so vor, als wäre ich Monate dort ge­wesen. Alleine. Unter Fremden. Auch wenn meine Eltern so oft kamen, wie es ging. Aber es ging eben nicht immer.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

RL | In dieser Zeit konnten Sie aber noch hoffen, das alles wieder «normal» wird?

CU | Na ja, ich habe schon gemerkt, dass nicht alles rund läuft. Gleichzeitig musste ich lernen, damit umzugehen. Nach der Operation gab es Folgeuntersuchungen. Die Handwurzel wurde geröntgt und die Wachstumsfugen ausgemessen. Irgendwann kam der Moment, wo meine Eltern ins Zimmer des Professors gerufen wurden. Ich musste draußen bleiben und hatte das Gefühl: Der sagt ihnen jetzt, ich muss sterben! «Wie es aussieht», meinte meine Mutter später, «wirst du kleiner bleiben.» – «Wie klein?» – «Vielleicht so klein wie ein zehnjähriges Kind.» Da habe ich gedacht: Ist ja schon superblöd, dass ich jetzt klein bleibe. Dann kriege ich keinen Mann, keine Kinder ...

RL | Stattdessen ging das Leben aber, mit neuer Färbung, weiter ...

CU | Eigentlich war ich immer ein lebenslustiger Mensch. Als ich aufs Gymnasium kam, habe ich schnell neue Freunde gefunden, wurde zur Klassensprecherin gewählt. Nicht, dass ich mich danach gedrängt hätte, aber es hat mir Spaß gemacht, für andere Partei zu ergreifen. Dinge von außen zu betrachten. Rat zu geben. Dazwischen gab es aber immer wieder Momente, wo ich unglücklich war und Ängste hatte. Weil ich dachte, ich kriege keinen Freund, obwohl ich mit Dreizehn einen hatte – so richtig, mit Partys im Keller und Blues-Tanzen!

RL | Die Realität wollte sich also nicht so recht an Ihre Ängste halten!

CU | Stimmt! Natürlich erscheine ich immer außergewöhnlich, da gucken alle hin – aber das ist okay, denn auch sonst kam ich wohl gut an. Ich war einfach integriert. Es war eine alltägliche Kindheit und Jugend. Mit großen Freiheiten. Als Jüngste von drei Mädchen war das Feld für mich schon freigekämpft. In dieser Zeit kam ich dann auch zur Theatergruppe «Brot und Spiele». Das war an der städtischen Kunst- und Musikschule in Remscheid. Dort gab es einen unglaublich guten Theaterpädagogen, Charles Wesseler, der hat alles aus mir rausgekitzelt und mir geholfen, mich nicht zu verstecken. Wir haben total abgefahrene Sachen gemacht, wahnsinnig viel Spaß gehabt und trotzdem immer begriffen, warum wir das gerade so und nicht anders machen.

RL | War der Weg zur Berufsschauspielerin von diesem Moment
an nur noch eine Einbahnstraße?

CU | Oh nein! Nach der Schule habe ich zunächst ein Studium begonnen: Deutsch und Englisch. Hauptberuflich Schauspielerei – das habe ich mich nicht getraut. Ein Beruf, der, was die Perspektiven angeht, auch so schon schwierig genug ist, und der für jemanden wie mich noch einmal so schwierig sein würde. Denn nur die Kleinen und Zwerge wollte ich nicht spielen. Irgendwann habe ich mich dann aber doch in eine Künstlerkartei eingetragen und drei Tage später eine Rolle im Schauspielhaus Bonn angeboten bekommen. Eine Kinderrolle!

RL | Bei der es aber nicht geblieben ist. Immerhin haben Sie in Bonn unter anderem auch eine viel gerühmte Ophelia gespielt.

CU | Ja, es folgte dann tatsächlich ein Engagement nach dem anderen: Theater, Fernsehen. Ich habe dabei von Kollegen, Regisseuren und Kameraleuten eine ganze Menge gelernt. Und ich wurde sichtbar. Einem Engagement im Münchener Residenz­theater verdanke ich dann auch die Einladung zum Casting für die Hauptrolle im Sams.

RL | Eine Traumrolle im ungeliebten Genre!?

CU | Oh ja! Zuerst war ich unsicher. Als ich dann aber das gut geschriebene Drehbuch las, habe ich wahnsinnig gelacht. Außerdem haben mir meine Freunde und meine Agentin gesagt: «Das musst du in jedem Fall machen. Entweder der Film floppt und wird einfach vergessen, oder es wird der Knüller.» Und das wurde er dann ja auch! Vorher musste ich allerdings meine Eitelkeit hintanstellen. Während meine Kolleginnen wunderhübsch geschminkt wurden, haben sie mich in einen Taucheranzug gepackt, mir eine Nase aufgeklebt und blaue Punkte ins Gesicht gemalt. Aber von der Rolle her betrachtet muss ich meinem Schicksal unglaublich dankbar sein. Zumal mir die Arbeit in einem so professionellen Rahmen und mit Kollegen wie Ulrich Noethen wahnsinnig viel Spaß gemacht hat.

RL | Nach dem Sams war ChrisTine Urspruch dann fast so be­kannt wie eine Tatort-Schauspielerin ...

CU | Allerdings. Und das Angebot, im neu konstellierten Münster­aner Tatort, die auf mich zugeschnittene Alberich-Rolle zu spielen, ließ nicht lange auf sich warten. Eine ständige Rolle im deutschen Tatort? Wow! Das ist für jeden Schauspieler – aber auch für Kamera­leute, Drehbuchautoren, oder für Kostüm- und Masken­bildner – eine Art Ritterschlag.

RL | Insbesondere, wenn die Produktionen dann auch noch zu den beliebtesten Tatorten überhaupt gehören?

CU | Sicherlich. Aber genauso wichtig ist für mich die Arbeit selbst. In diesem Team. Mit diesen Kollegen. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich zum Dreh nach Köln oder Münster komme. Da ist eine große Vertrautheit. Doch obwohl ich mit Jan Josef Liefers sicherlich schon 60 Drehtage – fast anderthalb Kinofilme! – hinter mir habe, hat sich da noch nichts erschöpft. Die Arbeit ist frisch, lebendig, spontan – nicht drehbuchgläubig und mit Freiräumen, die wir, als ganzes Team, immer wieder ausschöpfen.

RL | Und die Rolle selbst, die Pathologin Dr. Silke Haller, genannt Alberich? Wie fühlt sich das für Sie selber an?

CU | Ich werde oft gefragt, ob ich die Art, wie Prof. Boerne mit Alberich umgeht, nicht diskriminierend finde. Aber Humor ist ein gutes Ventil. Man darf Witze über meine Kleinheit machen. Das befreit. Außerdem geht Börne mit Thiel nicht viel anders um. Und er selbst hat ja auch seine Probleme. Schade finde ich, dass ich oft Rollen angeboten bekomme, die zwar ungewöhnliche, unge­normte Frauen zeigen, dabei aber das spezifisch Weibliche, Ver­führerische ausblenden. Einzelgängerinnen. Frauen, die sich durchbeißen müssen und kein besonders erfülltes Liebesleben haben.

RL | Das sagt eine verheiratete Frau und Mutter ...

CU | Genau! Ich hab’ ja dann doch einen Mann gekriegt (lacht), der sogar größer ist als ich! Tobias Materna, ein Theaterregisseur. Als wir uns kennen lernten, war es, als würde sich ein Kreis schließen, als hätten wir uns endlich wiedergefunden, als wären wir wieder zuhause ... Ja, genau! Heute haben wir eine fünfjährige Tochter, die übrigens in den Waldorfkindergarten geht, und wohnen im wunderschönen Allgäu, dort, wohin andere in den Urlaub fahren.

RL | Wenn Sie auf Ihr Leben, Ihre berufliche Entwicklung schauen, was verdanken Sie der Tatsache «anders» zu sein?

CU | Vor allem die Reflexion. Schon als Kind konnte ich aus mir «rausgehen», die Perspektive wechseln, mich von außen betrachten und wieder kommen! Dadurch habe ich manches erkannt, was andere die innerhalb der Situation blieben, nicht sahen. Das brachte mich – manchmal nur mit einem einzigen Satz – in eine Mittlerposition. Ohne meine Besonderheit wäre ich tatsächlich durchschnittlicher. Das hat nichts damit zu tun, ein «Defizit» auszugleichen. Ich muss nichts ausgleichen, sondern einfach nur mein Leben leben. Ich habe diese Qualitäten, andere haben andere.

RL | Als eine weitere dieser Qualitäten erwähnten Sie an anderer Stelle die Tugend der Geduld.

CU | Das stimmt. Es ging in diesen zwanzig Jahren beruflich zwar immer irgendwie weiter, aber oftmals sehr langsam. Manchmal auch rückwärts. Geduld ist dann wahnsinnig wichtig. Das heißt aber nicht, sich zurücklehnen und passiv warten. Nein, man muss wach bleiben, sich interessieren, auf Menschen zugehen, ohne die Dinge allzu sehr zu beschleunigen.

RL | Geduldig warten, mit einem guten Schuss Humor?

CU | Uneingeschränkt ja! Nehmen Sie Billy Wilder, der als Jude auswandern musste und dann später diese wunderbar leichten Komödien gedreht hat. Humor spitzt die Situationen zu, um sie im befreienden Lachen wieder aufzulösen und er hilft uns, das, was uns bedrückt, leichter auszuhalten.

RL | Gibt es in Ihrem Leben so etwas wie ein geheimes Kraftzentrum, eine Quelle aus der Sie Reflexion, Geduld und Humor schöpfen?

CU | Außer der Liebe zu meinem Mann und meiner Tochter ...? Da war immer ein Bild. Eine Kraft. Ein helles Licht, das bei ganz unterschiedlichen Gelegenheiten sichtbar wird. Heute zum Beispiel, als ich die Musik einer Frau gehört habe, die in Mexiko Straßenmusik gemacht hat. Das Licht hat mir immer zu Bewusstsein gebracht, dass wir alles in uns haben. Wir müssen nur schauen, wie wir da herankommen!