Patrick Roth im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Den inneren Erfahrungen treu bleiben

Nr 136 | April 2011

Der seit über 30 Jahren in Los Angeles lebende deutsche Schriftsteller Patrick Roth schreibt keine historischen Romane oder erbauliche christliche Literatur, auch wenn die 1991 erschienene Novelle Riverside (der erste Teil der «Christustrilogie») als «Bibelkrimi» bezeichnet wurde. In den USA lebend, schreibt er auf Deutsch, wobei es sein Kennzeichen ist, Filmmotive, Biografisches und Biblisch-Mythisches miteinander zu verbinden. Unbewusstes, Urbildliches wird spannungsreich mit Alltäglichem und Lebensweltlichem verknüpft; innere Erfahrungen werden geschildert, die uns unerwartet treffen und uns – wie ein existenzieller Traum – berühren, verändern können. Auch im Interview spielen Träume, die eine Grundlage des Schreibens von Patrick Roth sind, eine zentrale Rolle. In Vorbereitung ist sein neuer Roman Joseph.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Roth, für einen Schriftsteller der Gegenwart ist es ungewöhnlich, biblische Stoffe aufzugreifen, wie Sie das beispielsweise in Riverside getan haben.

Patrick Roth | Als 1991 Riverside erschien, wusste ich nicht, ob es ungewöhnlich war oder nicht. 1975 war ich mit einem Stipendium in die USA gekommen, um am Cinema Department der USC in Los Angeles zu studieren. Ich blieb, ließ mich für die Arbeit mit Schauspielern ausbilden, schrieb an englischsprachigen Drehbüchern und Filmen, aber nach einigen Jahren begann ich, in Deutsch zu schreiben, weil ich diese Sprache nicht verlieren wollte. Auch heute noch bin ich vom Literaturbetrieb einigermaßen abgetrennt, schon rein geografisch, weil ich in den USA lebe und dort kaum Deutsche kenne. Und dieser Stoff der «Christus­trilogie» hat sich mir – genau wie die Form – nicht gedanklich-intellektuell empfohlen, sondern ergab sich ganz natürlich aus meinem Erleben.

DKM | Haben Sie selbst denn besondere biografische Bezüge zur Religion?

PR | Ich bin evangelisch aufgewachsen, habe aber eine katholische Mutter, sodass gewisse Einflüsse und Eindrücke sicher auch von der Seite gegeben sind. Religion oder eine religiöse Einstellung ist für mich etwas, das sich aus dem Inneren meldet, auf einer persönlichen Erfahrung beruhen muss. Das Tiefste, was es je in meinem Leben gab, waren Traumerfahrungen. Träume, die ungleich einschneidender, machtvoller waren, als alles, was mir je in der äußeren Wirklichkeit widerfahren ist. Diese Träume, die mir 1978/79 in Los Angeles kamen, trafen mich gleichzeitig in einer Situation des Exils, der Isolation. Ich musste sie aufschreiben, um sie irgendwie zu fassen. Damals sah ich zufällig im amerika­nischen Fernsehen eine Interviewserie mit dem Mythenforscher Joseph Campbell. Er zeigte, dass Religionen und Mythen universelle, auf der ganzen Erde verbreitete Erfahrungsmuster enthalten, die sich auch in der seelischen Struktur jedes einzelnen Menschen wiederfinden. Und er wies auf die Traumforschungen von Carl Gustav Jung hin, mit dem ich mich in der Folge viel beschäftigte.

DKM | Ihre Träume waren ein einschneidendes Erlebnis – eine Erfahrung, die machtvoll und deshalb auch beängstigend gewesen sein muss. Für manche Menschen kann es eine Gefahr sein, wenn sie aus Träumen direkt Handlungsaufträge ableiten.

PR | Das ist richtig. Schon deshalb, weil 99 Prozent unserer «spontanen Interpretationen» am Sinn der Träume vorbeischießen. Jene, die glauben, gleich zu wissen, was ihnen ein Traum «zu bedeuten hat», verstehen Grundsätzliches nicht: Träume kommen, uns etwas zu zeigen, was wir noch nicht wissen. Dieser Weg – damit meine ich das Beachten der Träume für mein Leben und Arbeiten – ist mein ganz persönlicher Weg, den ich so nicht geplant habe.
Die Beschäftigung mit meinen Träumen war für mich zudem mit der Erfahrung verbunden, dass ich nicht «Herr im eigenen Haus» bin – es auch nie war. Sie zeigte mir, dass es außer meinem be­wussten Ich, das die Bilder des Traums zu verstehen suchte, noch ein zweites Zentrum gab, das die Bilder sandte: eine Art «Bewusstsein» im Unbewussten selbst. Wenn man den Träumen wirklich Auf­merksamkeit widmet, wird ein Sinn offenbar, der unserem Tagesbewusstsein meist widerspricht, es korrigiert, indem er eine ungeahnte Lösung, einen notwendigen Weg vor Augen stellt. Die eigentliche Aufgabe besteht dann allerdings darin, es bei diesen Einsichten nicht zu belassen, sondern dem Sinn eines Traums im Alltag eine substanzielle Wirklichkeit zu verschaffen. Dabei handelt es sich um einen Prozess, an dem die Ratio, der innere Dialog und der Instinkt ebenso beteiligt sind wie unser Unbewusstes und der Zufall. In dem Moment, wo Sinn hinzukommt, das Moment des Verstehens, Bewusstwerdung, wird das Schwere auch tragbar.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

DKM | Welche Rolle spielt die Religion dabei für Sie?

PR | Manche leiten den Begriff «Religion» vom Lateinischen «religare» her («an- und zurückbinden» an Gott). Andere von «relegere». Das hieße dann: ein «sorgfältiges und gewissenhaftes Beachten» – nämlich dessen, was Rudolf Otto «das Numinose» nannte. Religion im Sinn des «relegere» wäre zum Beispiel die gewissenhafte Sorge, ein «Sich-ernsthaft-Bemühen» beim Entschlüsseln des Sinns eines Bilds, das mir vom Unbewussten zugesandt wurde. Diese Mühe, die Auseinandersetzung mit einer inneren Erfahrung: Das ist für mich «religio», eine religiöse Einstellung. Nochmals: Das Religiöse gründet auf persönlicher Erfahrung – und wird erfahren zunächst als Auseinandersetzung, als Kampf, als Niederlage dann. Denn mein Plan – der Wille des Ich – wird durchkreuzt. Allerdings war es nach solchen Erfahrungen hilfreich, dass ich als Kind Altgriechisch und Latein gelernt hatte. So konnte ich an Texte der Bibel, die mich später brennend interessierten, unbefangen herangehen; ich konnte sie im Original lesen und Einzelnes nach­schlagen. Martin Luther zum Beispiel übersetzt das griechische Wort pistis im Neuen Testament mit «Glaube», es bedeutet aber zu­nächst einmal «Treue». Seiner inneren Erfahrung treu zu bleiben, auch wenn es schwer fällt. Das ist für mich «Religion». Treue ist etymologisch verwandt mit dem Englischen true, also «wahr». Wahr ist, was tatsächlich ist. Und tatsächlich ist auch und vor allem: was ich innerlich erlebe. Das heißt, ich darf einen Traum nicht einfach «nur» als Traum abtun, sondern sollte diesem Anderen, dieser inneren Erfahrung, auch tatsächlich nachgehen.

DKM | Mit ihren Erzählungen, wie auch «Mulholland Drive: Magdalena am Grab», schaffen Sie einen neuen Zugang zu Aussagen und Bildern der Bibel.

PR | Für mich wäre es nicht relevant, mich mit der Bibel zu be­fassen, wenn der Impuls nur von außen käme, nicht ein innerer Auftrag bestünde. Im Idealfall kann es einem Leser auch bei Themen, die auf den ersten Blick fremd erscheinen, gelingen, eine Leseerfahrung, eine innere Erfahrung zu machen – etwas, das dir dann niemand wegnehmen kann, das niemand «kopieren» kann. Ich bezeichne diesen möglichen inneren Prozess beim Lesen als «Passage»: Es eröffnet sich dir eine Passage. Dabei geht es um «das Buch hinter dem Buch», das heißt: um dein eigenes Buch, in dem du deinem Thema und deiner inneren Frage begegnest. Die Dinge, die du nie zu denken, nie zu träumen, nie zu hoffen wagtest – die dürfen sich jetzt öffnen; dieses bisher «Un-Erhörte» darf sich jetzt melden. Dem Leser die Möglichkeit einer solchen Erfahrung, solchen «Passage» zum Unerhörten zu schaffen, ist das Beste, was ein Buch erreichen kann.

DKM | Diese Auseinandersetzung mit inneren Bildern, mit Ihren Träumen, ist immer noch Thema Ihres Schreibens?

PR | Absolut. Ich komme von Bildern des Unbewussten her, werde von ihnen weiter angezogen und versuche, sie immer wieder einzuordnen, zu verstehen. Seit vier, fünf Jahren bin ich erneut mitten in diesem Prozess. Mit allem, was mir möglich ist, versuche ich herauszufinden: Wohin geht es? Es ist ein Hineinwachsen in die Geschichte. Wenn ich zu stark eingreife, ist es bloße Konstruktion, künstlich. Immer wieder ist da ein Fragen, ein Dulden – es ist ein Ausgeliefertsein dem Buch gegenüber, das da entsteht. Manchmal wünscht man sich wieder Freiheit; denn allein an den inneren Bildern zu schreiben, ist die einsamste Arbeit der Welt.

DKM | Hat das neue Buch einen Titel? Worum geht es?

PR | Es heißt «Joseph» und handelt vom Mann der Maria, von dem die Evangelien nur wenig berichten. Unter anderem liefern sie uns aber die vier Träume des Joseph. Nur weil Joseph sich diesen Bildern öffnete und die inneren Visionen mit aller Konsequenz auch in die Realität umzusetzen wusste, konnte das neue Bewusstsein sich entfalten: Gott zeigt sich als Mensch, in Jesus geboren.

DKM | Joseph nimmt Maria und das Kind an, auch wenn das Leben dadurch beschwerlich wird. Annehmen, ist das neben der Offenheit für das Unbewusste etwas Zentrales für Joseph?

PR | Annehmen heißt, dass er das Neue, das in dieser Phase noch sehr angreifbar ist, empfängt und schützt und in die Welt bringt. Wie Joseph aus dem Alten Testament hat auch dieser Joseph, der Mann der Maria, ein ungeheures Gespür, eine Sensibilität für das Unbewusste, was sich in den Träumen, in denen Gott oder ein Engel spricht, zeigt. Unser Augenmerk war bisher ganz und gar auf Maria gerichtet. Aber auch Joseph «empfängt», trägt etwas aus. Nämlich indem er, psychologisch betrachtet, auf sein Unbewusstes, auf seine Träume hört und dann – der entscheidende Schritt – dem so Empfangenen auch außen Antwort (das heißt: Wirklichkeit) schafft, es somit «gebiert», es «realisiert». Gerade in unserer Zeit, in der wir dabei sind, uns völlig dem Intellekt zu verschreiben – einer Zeit, in der das Gefühl kaum beachtet wird –, ist die Kategorie der inneren Er­fahrung wesentlich. Eine bewusste Verbindung zum Unbewussten muss sorgsam genährt werden, muss bestehen bleiben – damit das Unbewusste, zurückgewiesen und angestaut, nicht plötzlich brachial in die Wirklichkeit hereinstürzt, uns bewusstlos schlägt, indem es uns kollektiv ansteckt und mitreißt. Nur wenn jeder individuell sorgsam zur Kenntnis nimmt – etwa durch das Beobachten seiner Träume –, welche Gewalten unbewusst in uns streiten, das Dunkle nicht nur immer wieder wegdrängt, verleugnet, das Böse im eigenen Innern ernst nimmt und sich damit auseinandersetzt, besteht eine Chance, dass wir diese Inhalte nicht ständig auf andere projizieren, sondern den «Balken im eigenen Auge» erkennen. Dann – und erst dann – kann sich wirklich und dauerhaft etwas wandeln. Im Übrigen sollte man hier nicht fragen: Wie viele Menschen sollten so handeln und sich um eine bewusste Verbindung zur Botschaft der Träume kümmern? Unser quantifizierendes Denken will ja immer «möglichst viele» und will sie «möglichst rasch». Es geht aber nicht um die Masse, die Vielen. Sondern allein um die Aufrichtigkeit des Einzelnen, der – vielleicht zunächst ganz im Privat-Verborgenen – den rätselhaften, oft allzu fragilen inneren Bildern nachgeht, indem er sie zulässt, «gnadenlos gnädig» sich selbst gegenüber. Wer so seine Bilder empfängt, den oft schier unlösbaren Konflikt im Innern aushält, der handelt wie Joseph. Mit seiner Achtsamkeit gibt er dem Wertvollsten Raum, für das «in der Welt» zunächst nie Platz, nie «Herberge» ist: dem neuen Bewusstsein. Da liegt die Rettung – aber auch ein Augenblick höchster Gefahr.