Matthias Girke im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Denken und Heilen

Nr 138 | Juni 2011

Jeder von uns kennt den Zustand des Krankseins. Manchmal wäre es uns am liebsten, der Arzt würde eine eindeutige Diagnose stellen, wir würden einige Pillen schlucken und kurz darauf wieder fit und gesund sein. Aber ist der Körper, der Organismus nur etwas Ähnliches wie ein Automotor, dem etwas Öl fehlt? Nein, wir erleben vielmehr immer wieder, wie unser Zustand sich bessern kann, wenn wir uns in unserer Krankheit angenommen fühlen und die Krankheit in einen neuen Zusammenhang stellen. Die von vielen Menschen intuitiv erfahrene Verbindung von Körper, Geist und Seele ist Grundlage der Anthroposophischen Medizin, die sich nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zur konventionellen Medizin versteht. Dr. med. Matthias Girke ist Facharzt für Innere Medizin, Diabetologie und Anthropo­sophische Medizin, die auf Anregungen von Rudolf Steiner vor fast 100 Jahren zurückgeht, und Leitender Arzt am Gemeinschaftskranken­haus Havelhöhe/Berlin. Wie unser Bild von Krankheit und Gesundheit die Behandlung einer Krankheit beeinflusst, ist Thema des Gesprächs.

Doris Kleinau-Metzler | Was ist für Sie wesentlich im Umgang mit Patienten, Herr Girke?

Matthias Girke | Nach meinen Erfahrungen will der Patient zunächst wissen, was er hat und wie die Beschwerden in den Griff zu kriegen sind. Dabei wird dieses «Wie» immer wichtiger. Denn die Patientinnen und Patienten merken zwar, dass mit einem Medikament zum Beispiel der Blutdruck sinkt, aber sie bemerken eben auch die Nebenwirkungen und spüren, dass damit die Grunderkrankung noch nicht überwunden ist. Immer mehr Patienten fragen deshalb, was sie selbst für ihre Gesundung tun können. Sie sind durchaus bereit, ihren Lebensstil zu ändern, sich zum Beispiel mehr zu bewegen. Damit können Kräfte aktiviert werden, die zum Gesunden beitragen. Der Organismus kann nicht nur erkranken, sondern auch gesunden. Ein Beispiel dafür: Fieber wird oft irrtümlich als Krankheit wahrgenommen, ist tatsächlich jedoch ein Symptom, das langfristig sogar bestimmten Erkrankungen entgegenwirkt.

DKM | Heute stehen aber immer genauere, umfangreiche Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung.

MG | Wir müssen uns darüber klar werden, dass die ermittelten Befunde sich oftmals auf die Erkrankung eines Organs beziehen – aber jede Krankheit weist zugleich auf etwas hin, das den ganzen Menschen betrifft. Deshalb ist es sinnvoll, wenn die Medizin die seelische und biographische Lebenssituation des Patienten mit einbezieht. Dementsprechend ist nicht für alle Menschen die gleiche Therapie sinnvoll – auch wenn sich bestimmte Aspekte wie bei einem Beinbruch oder einer Herzoperation natürlich ähneln. Wir brauchen aber keine pauschalen Konzepte, sondern eine Medizin, die individuell auf den einzelnen Menschen bezogen ist. Krankheit ist eben nie monokausal, sondern unterliegt vielfältigen individuellen und sozialen Faktoren. Je bewusster sich Menschen mit diesen Fragen auseinandersetzen, desto effektiver können die therapeutische Maßnahmen wirken.

DKM | Viele Menschen wissen aufgrund zahlreicher Beiträge in Zeitschriften, Ratgebern und Fernsehsendungen einiges darüber, wie sie gesünder leben sollten, sich mehr bewegen, gesünder essen ... Aber die Umsetzung fällt im Alltag mit seinen vielen Anforderungen schwer, der Vorsatz geht verloren.

MG | Ja, viele Ratschläge kann man schon auswendig. Der Weg vom Wissen bis in die Hände ist fast die weiteste Wegstrecke auf diesem Planeten! Deshalb sind Hilfestellungen auf diesem Weg notwendig. Aber sie müssen individuell auf die Menschen zugeschnitten sein. Manchen reicht ein intensives Gespräch mit dem Arzt, viele andere brauchen jedoch mehr Anregung und Unterstützung. Da kann zum Beispiel eine Gruppe wie unsere «Havelhöher Herzschule» helfen, um sich auf den Weg zu machen. Wesentlich ist, dass ich als Arzt erkenne, wo der Patient steht, um im Gespräch gemeinsam eine Perspektive zu finden.

DKM | Damit sprechen Sie das Verhältnis Arzt-Patient an. Auch wenn Patienten meist gut über ihre Befunde informiert werden, vermissen sie häufig die Zeit für Gespräche.

MG | Reine Befundmedizin ist keine Humanmedizin, denn der Mensch ist mehr als seine Organe! Nichts kann das Gespräch
zwischen Patient und Arzt ersetzen. In der Anthroposophischen Medizin fragen wir: Wie unterstützen wir den Menschen bei seiner Gesundung? Wie können wir ihm beim seelischen Umgang mit seiner Krankheit helfen? Wie bewältigt er die mit der Krankheit gestellte Aufgabe? Dabei erleben wir immer wieder große Ent­wick­lungsschritte während des Krankheitsprozesses: So wie der Mensch körperlich gesundet, reift er im Seelischen individuell.

DKM | Das weist auf die Frage hin, wie stark das Bewusstsein des Patienten seine Heilung beeinflusst. Viele sind skeptisch und meinen, manche Arzneien wirken nur wegen des Placebo-Effektes. Dieser Vorwurf wird besonders der Homöopathie gemacht, die mit Verdünnungen arbeitet. Auch die Anthroposophische Medizin setzt die potenzierten Arzneimittel ein.

MG | Der Begriff Placebo kommt von «es möge gefallen». Jedes Arznei­mittel hat einen gewissen Placebo-Effekt, denn wenn ich einem Patienten sage, dass er jetzt ein starkes Mittel gegen seine Schmerzen bekommt, dann hat das nachweislich mehr Wirkung, als wenn ich nichts sage. Aber dieses Wirkprinzip «Placebo» gilt für alle medizinischen Verfahren, weil eigentlich immer menschliche Zuwendung im Spiel ist. Wir können (und wollen!) die Heilkunst nicht vom zwischenmenschlichen Einfluss isolieren. Der Placebo-Effekt macht also deutlich, dass es über die substanzbezogenen Effekte eines Arzneimittels noch weitere Dimensionen der Wirksamkeit gibt.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

DKM | Der Patient ist also nie nur «Teil-Organ-Kranker», denn er ist selbst am Verlauf seiner Krankheit beteiligt und trägt Verantwortung für sich. Demnach kann eine anonyme Gabe von Arzneimitteln zu Testzwecken keine umfassende Antwort über die Wirkung eines Medikamentes geben, auch nicht oder gerade nicht bei homöopathischen Mitteln, denn die Selbstbeschreibung des eigenen Zustandes ist dort zentral. Was genau steht eigentlich hinter der Homöopathie?

MG | Homöopathie bedeutet, dass ich einem Patienten ein potenziertes Mittel gebe, dessen Arzneimittel- bzw. Vergiftungsbild den Symptomen seiner Krankheit entspricht. Dahinter steht die Erfahrung: Gleiches heilt Gleiches, die Selbstheilungskräfte des Organismus werden angeregt. Oft wird in der heutigen, leider teilweise emotionalisierten «pro und contra Homöopathie»-Diskussion vergessen, dass potenzierte, verdünnte Arzneimittel schon seit sicher tausend Jahren eingesetzt werden.

DKM | Wie wird die Wirkung erklärt?

MG | Entscheidend für ein Verständnis potenzierter Arzneimittel ist, welchen Begriff wir von der Substanz haben. Denn in homöo­pathischen Arzneimitteln ist Substanz nur in kleinsten Mengen, fast nicht mehr nachweisbar enthalten. Aber auch im menschlichen Organismus können kleinste Einheiten wirksam und sogar lebensentscheidend sein: Die Konzentration des freien Schilddrüsen­hormons im Blut liegt im Bereich von Nanogramm pro 100 ml, also ein Milliardstel Gramm (10 hoch minus 9). Es geht also nicht nur um die Stoffmenge, sondern auch um die Botschaft, die der Stoff transportiert. Entscheidend ist, ob ich modellartig davon ausgehe, dass die Materie aus Teilchen zusammengesetzt ist oder ob ich ein eher prozessuales Verständnis entwickle.

DKM | Also tragen nicht nur die Menschen, sondern auch die Substanzen eine Geschichte in sich? Entsprechend ist so ein Element mehr als nur in chemischen Formeln anzuschauen?

MG | Ja. Wenn man begreift, dass Substanz mehr ist als nur eine stofflich messbare Materialität, dann kann man auch das Prinzip der Potenzierung nachvollziehen: Kann etwas, das zur Information einer Substanz, eines Stoffes gehört, nicht auch durch Verdünnung dem Medium wie mitgegeben sein? Zur Veranschaulichung: Wenn ich etwas lese, werde ich den Sinn des Geschriebenen nicht in der Tinte aufspüren. Denn Information ist nie stofflich. Das Stoffliche ist nur die eine Seite der Substanz, die äußere Hülle. Daneben gibt es eine Art inneres, geistig-informelles Prinzip. Rudolf Steiner sagte dazu: Die Substanz ist ein zur Ruhe gekommener Prozess. Alles, was uns hier auf der Erde begegnet, hat ja irgendeine Entstehungsgeschichte hinter sich – sonst wäre es nicht da.

DKM | Entscheidend für den Patienten bleibt, dass er eine Ver­besserung seiner Situation erlebt.

MG | Ja, es gibt sicher noch viele Rätsel zu lösen, was und wie etwas heilend im Menschen wirkt, aber das Erfahrungswissen ist da. Auch wenn die wissenschaftlichen Studien zur Homöopathie kontrovers diskutiert werden, bleiben die Forschung dazu und der Dialog darüber sehr wichtig. Klar ist, dass bei der Betrachtung von Krankheit mehrere Ebenen einzubeziehen sind. Deshalb ist der Begriff «Krankheitsbild» sinnvoll, denn auch bei einem Bild bringt es nichts, nur einen einzelnen Punkt zu fixieren.

DKM | Was ist nun der Unterschied zwischen der Homöopathie und der Anthroposophischen Medizin?

MG | Die Homöopathie begründet sich als Erfahrungsheilkunde auf dem Ähnlichkeitsprinzip. Die Anthroposophische Medizin entwickelt ein mehrdimensionales Verständnis der unterschiedlichen Erkrankungen des Menschen in allen Fachbereichen der Medizin. Dabei werden die vorliegenden Krankheitsbefunde als Ausdruck eines Krankheitsprozesses aufgefasst, der nicht nur das physische, sondern auch das lebendige, seelische und geistige Wesen einschließt. Gesundungsprozesse gilt es therapeutisch zu unterstützen. Diese Gesundungskräfte gehören zu den Lebensprozessen des Menschen und sind durch das seelische und geistige Wesen des Menschen bestimmt. Nehmen wir die Wundheilung: Wie wir wissen, ist sie nicht nur von den Regenerationskräften, sondern auch von der seelischen Konstitution des Menschen abhängig. Diese salutogenetischen Kräfte möchte die Anthroposophische Medizin fördern. Insofern brauchen wir eine Medizin, die der Verstärkung und Förderung von Gesundungsprozessen dient. – In diesem Sinne ist die Anthroposophische Medizin eine integrative Medizin, da sie auf der einen Seite ihre therapeutischen Maßnahmen am Krankheitsprozess orientiert und auf der anderen Seite die heilenden, salutogenetischen Kräfte unterstützt. Sie betrachtet Krankheit als eine Desintegration des geistigen und seelischen Wesens von seinem Leib und umgekehrt Heilung als eine Re-Integration. Mit diesem Menschenverständnis unterscheidet sich die Anthroposophische Medizin, wie sie in zahlreichen Krankenhäusern, Therapeutika, Praxen und auch im Reha-Bereich umgesetzt wird, von anderen medizinischen Systemen und natürlich auch von der Schulmedizin. Krankheit ist kein reparaturbedürftiger Störfall, sondern führt zu Veränderung und Entwicklung. Gerade in der Begleitung schwer erkrankter Menschen erleben wir die enormen inneren Entwicklungsschritte, die Menschen in der Auseinandersetzung mit der Erkrankung vollbringen und die zu ihrer Heilung gehören.