Dr. Michael Birnthaler, geboren in der katholisch-bayrischen Provinz, war «glücklicher Waldorflehrer», als ihn sein Lebensthema, die Abenteuer- und Erlebnispädagogik, fand. Nicht nur gedanklich konsequent, führten ihn Einsicht und Begeisterung geradewegs zur Gründung von «EOS», der in Freiburg/Breisgau beheimateten Organisation, die seit 2002 vielen tausend Kindern und Jugendlichen zu ungewöhnlichen Ferien- und Klassenfahrten verhalf.
Ralf Lilienthal | Teamspiele – so heißt Ihr jüngstes Buch, das sich als eine Art Entwicklungshelfer zu Sozialkompetenz und als Ausdruck einer neuen Spielkultur empfiehlt. Was ist das Neue an den Teamspielen, von welchen «alten» Formen des Spielens setzen Sie sich ab?
Michael Birnthaler | Der wohl wichtigste Unterschied betrifft das Konkurrenz- und Wettkampfprinzip fast sämtlicher alter Spielformen. Es geht bei den bisherigen Spielen eigentlich bloß ums Gewinnen und trickreiche Niedermachen von Gegnern; jeder Einzelne will dabei der Beste sein oder den Triumph für seine Mannschaft herausholen. Auch die sogenannten «New Games», die von Kalifornien aus in den Siebzigerjahren ganz Europa erobert haben und ohne Gewinner und Verlierer auskommen, erheben sich kaum über das Niveau von Blödel- und Partyspielen. Anders bei den echten Teamspielen. Hier treten nicht Einzelkämpfer und Mannschaften gegeneinander an. Stattdessen treten jetzt Teams an, unter der Spielidee, in bestmöglicher Weise zusammenzuarbeiten. Bei guten Spielen kommt es gar zum Waterloo, wenn die Spieler nicht ausreichend miteinander kooperieren.
RL | Es gibt Spiele wie «Die Mauer», «Mission» oder «Spinnennetz», die knifflig sind und diverse Fähigkeiten herausfordern – was bedeutet das für den Gruppenprozess insgesamt?
MB | Teamspiele gehen weit über das reine Abspielen eines Spiels hinaus. Schon im Vorfeld braucht es für sie Pläne und Strategien. Anschließend blickt man zurück, wertet aus, reflektiert und zieht einen Transfer in den Alltag. Und sie führen, vor allem wenn es um die langfristige Entwicklung einer institutionellen Gruppe oder Unternehmenskultur geht, zur abgestimmten Weiterentwicklung durch neue, angepasste Spiele. Insbesondere durch die «Hebammen- arbeit» eines erfahrenen Spielleiters kann aus der Gruppe dann ziemlich schnell ein Hochleistungs- oder Dream-Team werden.
RL | Und noch etwas gibt es, was diese Spiele besonders macht: Sie sind meist in der Natur zuhause und haben eine sehr körperliche Seite.
MB | Tatsächlich sind auch das Aspekte, die sie einzigartig machen! Die weitaus meisten bekannten Spiele sind Indoor-Veranstaltungen. Selbst bei klassischen Freilandsport und -spielarten hat die Natur kaum mehr Bedeutung, als Kulisse zu sein. Teamspiele dagegen sind per se Natur- und Landschaftsspiele, bei denen die Natur vor allem verbündeter Partner ist. Was die körperliche Seite der Teamspiele betrifft, so heben sie sich von den konventionellen Sportspielen ab, die auf die bloße «mechanische» Bewegung reduziert sind. Gesunde, sinnvolle Spiele zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie auch die Seele des Menschen geschmeidig machen, die Klaviatur seiner Empfindungen erweitern und seinen Geist anregen.
RL | Sie haben wiederholt auf den immer größer werdenden «Spiele- markt» aufmerksam gemacht. Welche tieferen Ursachen sehen Sie dafür?
MB | Es gibt Computerspielmessen, die von mehr als einer Viertel Million Menschen besucht werden. Die Lust am Spielen wächst von Jahr zu Jahr. Das gilt für die sogenannten «Blamierspiele», wo Menschen innerlich die Hosen herunterlassen, genauso wie für die am Computer gespielten Abenteuer- und Killerspiele. Gerade in Spielwelten wie World of Warcraft wird etwas gesucht, was dort nicht zu finden ist: echte Herausforderungen, Ernstsituationen, Bewährungsproben. Wer solche PC-Spiele semantisch untersucht, findet aber erstaunlicherweise Spielstrukturen, in denen archaische Energiefelder wie die «Heldenreise» und andere Elemente vergangener Mysterienkulte in karikierter Weise auftauchen. Wenn man so will, werden heute Millionen organisierter Computerspieler an ihrer tief sitzenden Sehnsucht nach echten Abenteuern gepackt. Aber am Ende müssen sie feststellen, dass sie ihr Leben verspielt haben. Neun Prozent aller World-of-Warcraft-Spieler werden süchtig! Nicht einmal die Hälfte dieser Spielsüchtigen kann geheilt werden.
RL | Teamspiele sind ein wichtiges, nicht aber das Kernthema Ihrer ausgedehnten Forschungs-, Lehr- und Beratungstätigkeit – wo liegt die gemeinsame Wurzel Ihrer einander ergänzenden Aktivitäten?
MB | Zunächst in meiner Auseinandersetzung mit der Anthroposophie und da im Besonderen mit der Waldorfpädagogik. Als Sport- und Religionslehrer bin ich früh mit einem irritierenden Phänomen konfrontiert worden: Die Schüler schienen unausgefüllt, schulmüde, eine Art Mehltau lag auf ihren Seelen. «Wir werden nicht ernst genommen», hieß es. «Wir wollen Verantwortung, wir wollen etwas erleben.» Also haben wir ein Projekt gestartet und in Südfrankreich in der Nähe des Montségur beim Bau einer neuen Schule geholfen. Mit dem Ergebnis, dass die Schüler ausgefüllt und zufrieden waren und ihre Flausen vergessen hatten.
RL | Wie kam es von diesen Aktivitäten eines einzelnen Lehrers zur Gründung der erlebnispädagogischen Unternehmung EOS?
MB | Nicht zuletzt durch Forschungen über die Beziehungen zwischen Waldorfpädagogik und erlebnisorientierten Strömungen. Dabei stieß ich in den Konferenzaufzeichnungen der ersten Waldorfschule auf eine Fundgrube, mit der ich nicht gerechnet hatte. «Ihr müsst an Eurer Schule eine eigene Jugendgruppe gründen, wenn Ihr die Schüler erreichen wollt», hatte Rudolf Steiner schon damals den Lehrern zugerufen und durch eine Reihe methodisch-didaktischer Angaben den Grundstock der gesamten Erlebnispädgogik gelegt. Obwohl ich eigentlich ein glücklicher Lehrer war, hat mich diese Vision dann nicht mehr losgelassen, bis ich meinen Jugendtraum von der eigenen Organisation wahrgemacht habe.
RL | EOS ist als Ein-Mann-Unternehmen begonnen worden und hat dann eine geradezu rasante Entwicklung genommen. Womit haben Sie Ihre «Kunden» überzeugt?
MB | Ich hatte schon vorher etliche Klassenfahrten und Freizeiten organisiert und durchgeführt, also haben wir mit thematischen Ferienlagern wie «Robin Hood, Leben in den Wäldern» begonnen – basierend auf den drei menschlichen Grundsehnsüchten: Kinder suchen und brauchen Abenteuer (das Wahre), Gemeinschaftserlebnisse (das Schöne) und unverbrauchte Naturerlebnisse (das Gute). Genau das, was an unseren Schulen nicht geliefert werden kann, weil sie nicht dazu ausgelegt sind. Was wir machen? Wir lassen die Kinder in die Geschichten eintauchen. «Erkläre mir, und ich vergesse, zeige mir, und ich erinnere mich, lass mich erleben, und ich verstehe!» Auf der Waldlichtung sitzen dann am letzten Abend zwanzig harte Jungs im Mondlicht, jeder gefühlt ein Held wie Robin Hood, und erwarten ihren Ritterschlag. Dann fließen die Tränen, bei allen zwanzig, von denen manche nicht «beschulbar» waren. Sie sind unter ihrem Panzer erreichbar!
RL | Bei Ferienlagern und Klassenfahrten sind Sie aber nicht stehengeblieben – was gehört heute noch zur EOS-Welt?
MB | Vom ersten Tag an haben wir auch eine Ausbildung in Erlebnispädagogik, besser gesagt in «Erlebenspädagogik», angeboten, ohne zu wissen: Kommen drei, fünf – kommt überhaupt einer? Tatsächlich waren es, wie aus dem Nichts, 25 Menschen, deren eigenes Suchen wir mit unserem Angebot berührt hatten. Heute bieten wir diese Ausbildung sowohl berufsbegleitend als auch in einem ein bis zwei Monate dauernden Vollzeitlehrgang an. Aus den 25 am Anfang sind heute über 1000 Ausbildungsteilnehmer geworden.
RL | Aber auch Unternehmen und Organisationen nehmen inzwischen Ihre Teamtrainings in Anspruch.
MB | Das ist eine spannende und produktive Arbeit, die wir allerdings nie aktiv geplant hatten. Die Firmen sind auf uns zugekommen und haben unsere Kompetenzen nachgefragt. Ein weiteres EOS-Projekt sollte auch noch erwähnt werden: Seit 2009 sind wir vom Sozialministerium anerkannter Träger der Freiwilligendienste. Auch hier beobachten wir wieder ganz stark, wie die Ideen der Erlebnispädagogik noch bei den 17- bis 27-Jährigen ankommen, die wir im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres und des Bundesfreiwilligendienstes in ganz Deutschland und ins Ausland vermitteln. Bei unseren FSJ-Seminaren entstehen offensichtlich so starke soziale Bindungen, dass viele den Impuls nicht abreißen lassen wollten und daraus eine eigene kleine Jugendbewegung entstanden ist.
RL | Inzwischen arbeiten weit über 20 feste Mitarbeiter allein bei EOS-Freiburg, hinzu kommen momentan weitere 16 Standorte, außerdem aktuell 300 freie Mitarbeiter – wie gehen Sie selbst mit dem Thema Teambildung um?
MB | Wir haben uns mit den Jahren eine sehr ausdifferenzierte Unternehmenskultur erarbeitet, um nach Möglichkeit zu leben, was wir selber lehren. Nehmen wir als Beispiel die Entlohnungsfrage. Verkürzt gesagt haben wir ein neues integriertes dreigliedriges Lohnmodell entwickelt: bestehend einerseits aus dem auch andernorts sogenannten «Grundeinkommen»; davon zu unterscheiden ist ein Leistungslohnanteil, der die Bedeutung des einzelnen Mitarbeiters für das betriebliche Gesamtergebnis berücksichtigt. Und drittens ein Bedürfnisanteil, der sich aus der konkreten Lebenssituation ergibt. Besondere Bedeutung hat dabei das «Zusprechverfahren», denn nicht mein Ego entscheidet, was mir nach Leistung und Bedürftigkeit zusteht, sondern die Fürsorge aller anderen.
RL | Abschließend würde ich gerne einen Blick durch das Fernglas werfen – was haben Sie und Ihre Mitstreiter für die kommenden Zeiten in den Blick genommen?
MB | Im Rahmen der EOS-Jugendbewegung haben wir 2012 eine Dorfschule am Kaiserstuhl zu einem schmucken Schullandheim umgebaut. Jetzt wurde uns ein ehemaliges Zisterzienserkloster samt
weitläufiger Ländereien angeboten – und an Ideen, was man dort in unserem Sinne tun könnte, mangelt es nicht ... !