Die Berliner Schriftstellerin Judith Hermann ist seit ihrem ersten Erzählband, «Sommerhaus, später», eine literarische Stimme unserer Zeit; sie arbeitet derzeit an ihrem vierten Buch, das sie Ende dieses Jahres beenden möchte. Sie ist zudem eine Lesende, deren Lebensphasen und Alltag von den Werken anderer Autoren begleitet werden. Dazu gehört besonders die 1931 geborene Kanadierin Alice Munro (eine Anwärterin auf den Literatur-Nobelpreis; nach der Buchmesse wissen wir: die Literaturnobelpreisträgerin 2013!). Im Gespräch mit Judith Hermann über Alice Munros Erzählungen, über das eigene Lesen und Schreiben tauchen immer wieder die Begriffe «stattdessen» und «tröstlich» auf. Es ist dieser Trost, den wir alle ab und zu brauchen, wenn der Alltag, unser Leben nicht so ist, wie wir es uns vorstellten, sondern «stattdessen» anders. Und dieses «Stattdessen» ist für Judith Hermann etwas, das in den Erzählungen von Alice Munro als «tröstlich» bleibt. In den oft unspektakulären Geschichten gibt es intensive Augenblicke – Sätze, Gesten, Zufälle –, welche die Hauptfiguren zu einer Wende oder einem scheinbar unveränderten «Weiter-So» führen. Alice Munro enthält sich aller moralischer Wertungen, erzählt knapp und doch anschaulich und tiefgründig. Wenn wir lesend in diese Welt eintauchen, werden wir berührt, bewegt.
Doris Kleinau-Metzler | Liebe Frau Hermann, Sie haben ein Nachwort zu einem Erzählband von Alice Munro geschrieben und eine CD mit Texten von ihr aufgenommen. Was fasziniert Sie an dieser Schriftstellerin?
Judith Hermann | Es ist schwer, etwas Zusammenfassendes zu Alice Munro zu sagen, so wie es auch schwer ist, ihre Erzählungen einfach nachzuerzählen. Sie ist eine sehr komplexe Schriftstellerin, die ausschließlich Kurzgeschichten schreibt, aber diese kurzen Geschichten haben viele Ebenen, oft überraschende Momente und sie machen große Sprünge, manchmal über Jahrzehnte hinweg. Es gibt in diesen Geschichten eine hinter dem scheinbar Alltäglichen verborgene Intensität, einzelne, kleine Momente, die so etwas wie einen tröstlichen Begriff vom «Stattdessen» schenken können: Wir erwarten etwas vom Leben, und das bekommen wir nicht; wir bekommen aber stattdessen etwas ganz anderes. Und die Kunst ist, das zu begreifen und auch wertzuschätzen. Alice Munro kann davon erzählen, manchmal nur durch einen einzigen Satz – die Erinnerung an einen Satz, der vor fünfzig Jahren ausgesprochen worden ist, an den man sich plötzlich erinnert und der die Dinge fünfzig Jahre später in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Ich habe Alice Munros Geschichten zum ersten Mal mit zweiunddreißig Jahren gelesen, dann wieder mit siebenunddreißig und jetzt noch einmal mit Mitte vierzig: Jedes Mal hat sich eine neue, weitere Sicht auf die Geschichten eröffnet. Je älter ich werde, desto mehr weiß ich, und desto mehr verliere ich, desto mehr weiß ich nicht. Ich bin immer ein anderer Leser. Aber ich empfinde den Trost der Erzählungen bei jedem Lesen sehr deutlich, das Staunen über die Winkelzüge des Lebens, das durch ein Innehalten oder Rückblicken in den Geschichten mit einem Mal klar hervortritt. Und all diese Erzählungen behaupten gar nichts. Sie wollen nichts besser wissen als der Leser, sie enden oft mit etwas Ungefährem, einer ungefähren Feststellung.
DKM | Können Sie ein Beispiel dafür geben?
JH | Eine der ersten Geschichten, die ich von Alice Munro gelesen habe, ist die Geschichte «Die Kinder bleiben hier» (Alice Munro, Der Traum meiner Mutter, S. Fischer Verlag), in der eine Frau ihren Ehemann wegen eines anderen Mannes verlässt. Am Ende der Geschichte sagt ihr Ehemann eben diesen verhängnisvollen Satz – die Kinder bleiben hier. Diese ganze Geschichte fand ich beim ersten Lesen genauso entsetzlich wie beeindruckend, zumal mein Sohn damals noch ganz klein war und ich selbst von großen Lebensveränderungen betroffen war, geschüttelt vom Begreifen, dass ich mich von nun an immer in erster Linie für das Wohl des Kindes und erst in zweiter Linie für mein eigenes Wohl entscheiden würde. Die Entscheidung der Frau in Alice Munros Geschichte hat mich schockiert und atemlos gemacht. Am Ende heißt es, dass die verlassenen Kinder ihre Mutter später fürs Verlassenwerden hassen und bestrafen werden. Aber es heißt auch, wenn sie sie nicht fürs Verlassenwerden bestrafen würden, dann stattdessen sicher für etwas anderes. Und so ist diese wahrscheinlich wahre Einsicht über Kinder und Eltern etwas, mit dem die Entscheidung der Erzählerin damals im Rückblick einen anderen Akzent erhalten kann.
DKM | Auch mich hat diese Erzählung bis heute nicht losgelassen. Aus dieser und anderen Erzählungen Alice Munros spricht auch die Einzigartigkeit eines Lebens und die Absolutheit einer bestimmten Entscheidung oder eines Ereignisses. Ich staune manchmal, warum mich das als Leserin berührt.
JH | Bei Alice Munro gelangt man lesend wie Hand in Hand mit ihr zu der Erkenntnis eines Augenblicks; das ist eine merkwürdige und eher seltene Form von Gemeinsamkeit mit einem Autor. Ich lese – das bedeutet, ich lebe mich in das Leben eines anderen Menschen ein und nehme von den Erfahrungen und Bildern dieses fremden Lebens etwas wieder mit zurück in mein eigenes Leben. So kann ich meinem eigenen Leben für die Weile des Lesens entkommen. Und was ist das für eine Erleichterung! Durchs Lesen wird die permanente Ungewissheit, mit der man sich arrangieren muss, ein kleines Stückchen gebändigt und bezwungen. Und andererseits bedeutet Lesen, sich in der Wirklichkeit zu verankern. Das ist paradox, denn eine Geschichte hat ja mit meiner Wirklichkeit scheinbar gar nichts zu tun. Aber lesen – und auch schreiben – ist immer auch der Versuch, die Wirklichkeit festzuhalten, einzuordnen.
DKM | Lesen und Wirklichkeit. Es kann Abtauchen in eine Welt sein, in der das Happy End feststeht und deshalb kurz tröstet. Andere Bücher können ein bisschen «wachmachen» für das, was im Alltag fast untergeht, mein wirklich «Eigenes», mein Inneres.
JH | Ich glaube, Lesen heißt, auf Distanz zu sich selbst zu gehen. Es geht um die innere Bewegung, um die Aufmerksamkeit für diese kleinen Momente im Leben, von denen es so unzählig viele gibt, die auf den ersten Blick nicht unbedingt dramatisch sein müssen – Momente, in denen wir innerhalb weniger Sekunden eine Entscheidung treffen, Sätze sagen, jemandem begegnen oder jemanden verpassen. Momente, die unsere Leben verändern, ohne dass wir das merken, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Ich erinnere mich an eine Alice Munro-Geschichte, an deren Ende vier Leute von einer Gartengesellschaft mitten in der Nacht mit dem Auto nach Hause fahren, sie fahren über die Landstraße, sie fahren ohne Licht, sie fahren singend. Sie überqueren eine Kreuzung und unwahrscheinlicherweise überquert auch ein anderes Auto ohne Licht zeitgleich diese Kreuzung, nicht ganz zeitgleich, drei Sekunden später vielleicht, und beide Autos rauschen in der nächtlichen Dunkelheit und unter dem hohen sternklaren Himmel aneinander vorbei. Ganz knapp. Aneinander vorbei. Und das war’s, die Geschichte ist vorbei, die Gartengesellschaft kommt heil zu Hause an, steigt aus und geht schlafen. Und was mache ich mit so einer Geschichte? Ich klappe das Buch zu und sehe auf. Und warum gehe ich nach so einer Geschichte für einen Moment anders durch meinen Tag? Das kann ich manchmal nicht sagen. In der Erzählung «Trost» (Alice Munro, Himmel und Hölle, S. Fischer Verlag) sitzt die Frau, deren Mann überraschend Selbstmord begangen hat, mit dem Beerdigungsunternehmer in ihrer Küche beim Tee, er hat ihr Blumen und die Asche ihres Mannes mitgebracht, und weil sie nicht wissen, worüber sie sprechen sollen, sprechen sie einfach über seine Arbeit. Am Ende gibt es eine sehr typische Munro-Stelle: Sie fragt ihn, ob er an so etwas wie die Seele glauben würde. Und er sagt, ja, ich glaube an so etwas wie die Seele, und dabei schüttelt er den Kopf; er nickt nicht, sondern er dreht den Kopf (wie bei einer Verneinung). Alice Munro schafft es, immer eine und noch eine und noch eine Ebene aufscheinen zu lassen.
DKM | Sie schildern, was Kunst, Literatur sein kann – diese Genauigkeit, Wahrhaftigkeit und Sprache in einer bestimmten, individuellen Form, kann mich mir selbst nahe bringen, verdeckte Ebenen berühren. Was bedeutet Ihnen Ihr eigenes Schreiben, Frau Hermann?
JH | Lesen ist ein Von-Sich-Weggehen, Schreiben ist ein Zu-Sich-Hingehen-Müssen. Und am Ende vom Prozess des Schreibens heißt es auch wieder: von sich weggehen. Schreiben ist für mich wahnsinnig anstrengend, Lesen ist das ganze Gegenteil. Beim dritten Buch, aber auch bei diesem vierten, an dem ich jetzt arbeite, empfinde ich das oftmals wie eine Arbeit im Bergwerk. Unter Tage. Das Abtragen von Schichten, Warten auf Licht. Ich schreibe einen Satz auf, nicht um zu sehen, dass er gilt, sondern um zu sehen, dass er nicht gilt: So kann er nicht sein. Aber wie ist er dann? Manchmal brauche ich wirklich sehr lange, bis ich die Kombination aus zum Beispiel fünf Wörtern gefunden habe, die mir die richtige scheint – sowohl für mich als auch für den Protagonisten der Geschichte.
DKM | Ist das ein Unterschied?
JH | Ja, das ist ein Unterschied, glaube ich. Der Protagonist möchte nicht verraten werden. Er möchte beschrieben werden, aber nicht bloßgestellt. Das ist eine ziemlich heikle Balance, zumal ich das Gefühl habe, dass das Schreiben, je länger ich schreibe und je älter ich damit werde, immer schwieriger wird. Der Anspruch wächst, und das altersbedingte Gespür fürs Scheitern wächst auch. Je älter ich werde, desto mehr empfinde ich, dass jedes einzelne Wort und jeder Satz eine Weggabelung ist. Das ist wahnsinnig anstrengend. Aber wenn ich dann endlich zu einem sprichwörtlichen Punkt gekommen bin, gibt es doch ein leises, kurzes und schönes Gefühl von Glück und schöpferischer Freude. Als ich jünger war, beim ersten und auch noch beim zweiten Buch, habe ich mich sehr wichtig genommen, ich habe mich überhaupt nicht hinterfragt. Älter werdend rückt einen das Leben an den Rand, man sieht sich selbst nicht mehr im Mittelpunkt. Man stellt die Dinge in Relation zu dem, was gleichzeitig um einen herum und in der Welt passiert, und die Fragen, die ich mir selber und somit auch dem Text stelle, sind deshalb völlig andere.
DKM | Ein Buch ist wiederum ein Geschenk für die Leser. Welche anderen Schriftsteller haben Sie in den letzten Jahren noch beeindruckt?
JH | Vor drei Jahren habe ich All die schönen Pferde von Cormac McCarthy gelesen, danach alle Bücher von ihm. Ich fand alle gut, mehr oder weniger, aber dieses eine ist ein so großartiges Buch! Er hat eine wirklich extreme Kraft der Sprache, es ist ein wunderbares, poetisches, atemberaubendes, kraftvolles Buch; fangen Sie’s an, es würde mich wundern, wenn Sie wieder aufhören könnten … Solche Bücher sind wunderbar – sie haben nichts mit meinem Leben zu tun und sie berühren mich trotzdem, weil sie so bei sich sind, weil sie Monumente sind. Aber die Protagonisten bei Alice Munro, die zärtlichen Empfindlichkeiten ihrer Protagonisten haben exakt etwas mit mir zu tun, mit meinem einfachen, schweren, alltäglichen Leben.