Thomas Knubben im Gespräch mit Maria A. Kafitz

Auf Dichters Spuren – Eine Winterreise

Nr 168 | Dezember 2013

«Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen …» Dieser bekannte Satz von Matthias Claudius stimmt durchaus – und er stimmt in besonderem Maße dann, wenn jener «einer» der Germanist, Historiker und Professor für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement Thomas Knubben ist, der in 53 Tagen zu Fuß von Nürtingen nach Bordeaux unterwegs war, um im Gehen, im Nachgehen einem Dichter – und auch sich selbst – näherzukommen.

Maria A. Kafitz | Lieber Herr Knubben, wenn ich Sie heute frage: «Wie geht’s?», dann kann ich nicht nur nach Ihrem Befinden fragen, denn Sie haben an einem 6. Dezember eine ungewöhnliche Reise begonnen, sind 1470 Kilometer zu Fuß gegangen, waren sprichwörtlich einem Dichter auf der Spur. Wie also geht’s, wohin ging’s und vielmehr noch: wer ging voran?
Thomas Knubben | «Vieles ginge besser, wenn man mehr ginge.» Das meinte zumindest der große Spaziergänger Johann Gottfried Seume. Dem kann ich mich nur anschließen. Freilich bedarf es dazu immer des ersten Schritts. Und der lässt oftmals lange auf sich warten. Bei mir dauerte es 25 volle Jahre, bis ich mich schließlich aufmachte. Nicht um Seume, sondern um Friedrich Hölderlin zu folgen. Für Hölderlin war die Reise nach Bordeaux im Winter 1801/1802 der große Einschnitt in seinem Leben. Zuvor hatten sich viele berufliche und auch persönliche Hoffnungen bei ihm zerschlagen. Da bekam er das Angebot einer Hauslehrerstelle in der Weinmetropole und Hafenstadt am Atlantik. Er nahm es an und machte sich auf den Weg dorthin in der Erwartung, das Vaterland, wie er schrieb, «vielleicht auf immer zu verlassen». Ein gutes halbes Jahr später kam er aber schon wieder zurück – vollkommen erschöpft, abgemagert, desorientiert und gekleidet wie ein Bettler. Es war ihm offensichtlich Schreckliches widerfahren. Was das aber gewesen ist, darüber wird seit 200 Jahren diskutiert. Ich bin dem dann buchstäblich nachgegangen.

MAK | Haben Sie sich Regeln für die Reise gegeben?
TK | Eine ganze Reihe. Eine Frage, die ich klären wollte, war, ob Hölderlin den Weg nach Bordeaux, wie lange angenommen wurde, tatsächlich zu Fuß zurückgelegt hatte. Um das zu prüfen, musste ich zur gleichen Jahreszeit und auf der gleichen Strecke, die er zurückgelegt hat, unterwegs sein. Also im Winter, zu Fuß und allein. Ich bin daher wie Hölderlin am 6. Dezember aufgebrochen und fast zum gleichen Zeitpunkt wie er, am 27. Januar, angekommen – genau 12 Stunden früher. Eine andere Regel bestand darin, jeden Tag genau zur Mittagszeit von der Stelle aus, wo ich mich gerade befand, Fotos von allen vier Himmelsrichtungen zu machen. Damit wollte ich mein jeweiliges Fortkommen, das Wetter, das Licht und auch die unspektakulären Eindrücke einer solchen Reise festhalten. Der erste Ort war sehr gut getroffen: Ich stand genau an der Kreuzung von Hölderlins Schulweg und der A 8 von Stuttgart nach München. Besser lässt sich der Zeitsprung kaum erfassen.

MAK | Jeder von uns kennt ja mindestens einen, der den Jakobsweg schon einmal gegangen ist – oder es zumindest versuchte. Wie sind Ihnen, einem «Poetenpilger», die Menschen unterwegs begegnet?
TK | Nur freundlich. Ich wurde häufig angesprochen und mehrfach von der Straße weg auf einen Kaffee, ein Bier, zum Essen und einmal sogar zum Übernachten eingeladen. Das lag gewiss auch an meinem Wanderstab, einem Haselnussstecken. Er wies mich als eine Art Pilger aus. Ein Wanderer, der 200 Jahre vor mir unterwegs war, hat geschrieben: «Ich bin lange in Frankreich herumgelaufen, es ist mir nichts als Liebes und Gutes widerfahren.» So war es auch bei mir.

MAK | Ihr Wanderstab war am Ende der Reise rund 25 Zenti­meter kürzer. Ein messbares Zeichen auch für Anstrengung und Strapazen – zumal in einer Jahreszeit, die andere lieber kuschelig im Warmen verbringen.
TK | Ich habe mir die Jahreszeit ja nicht ausgesucht, sie war mir vorgegeben. Ich habe es aber auch nicht bedauert. Zumal die Winterreise in der deutschen Literatur eine ganz eigene Tradition hat, wenn wir nur an Schuberts Liederzyklus oder an Heines Wintermärchen denken. Etwas Sorge hatte ich freilich schon. Dass ich mich beispielsweise in einer endlosen Schneelandschaft verlaufen könnte. Hölderlin hatte in einem Brief von schlimmsten Er­fahrungen in den Bergen der Auvergne berichtet. Am Ende war aber alles nicht so schlimm. Auch wenn alle Knochen wehtaten, kam ich unversehrt in Bordeaux an.

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MAK | Hölderlin war, so zumindest lassen es seine Briefe vermuten, ein «Gerne-Geher». Er dichtete sogar im Gehen. Ist in seiner Dichtung davon etwas spür- und lesbar?
TK | Ich denke ja. Nicht immer und nicht in jedem Gedicht, aber grundsätzlich schon. Erfahrbar ist der Rhythmus des Gehens etwa im Rhythmus der Verse. Hölderlin war ja als Dichter äußerst penibel, hat Ausdrücke ständig verbessert und die Zahl der Silben genauestens kontrolliert. Das Wandern ist auch oftmals selbst Thema der Gedichte. Einige sind mit Der Wanderer, Die Wanderung oder Der Spaziergang überschrieben. Vor allem aber zeigt sich der Geist des Gehens in der Weitung des Horizonts, im Flanieren der Gedanken von einer Idee und einer Empfindung zur anderen.

MAK | «Gehen heißt immer auch denken», schreiben Sie, denn «Spaziergänge sind Gedankengänge». Ist es gleich, wo wir gehen?
TK | Gewiss nicht. Es gibt Wege, die inspirieren, und andere, die schlicht langweilen oder gar deprimieren. Nationalstraßen etwa, die sich endlos hinziehen. Kleine Nebenwege hingegen, die durch Landschaften mit kleinen Seen und Wiesen, Wald und Weiden, an Kühen und Schafen vorbeiführen, sind reine Labsal. Man erholt sich beim Gehen. Dann werden die Gedanken frei, dann kann der Geist schweifen, hin- und herflattern und sich die buntesten Dinge ausmalen, ohne dass es jemals langweilig wird.

MAK | Das klingt ja fast nach einer Charakterisierung Hölderlins – zumindest seiner frühen Jahre, denn eines seiner zentralen Themen war ja die Freiheit. Die Freiheit von Gedanke und Denkendem.
TK | Da befand er sich ganz auf der Linie seines Vorbilds und Mentors Friedrich Schiller. Wie der wurde auch Hölderlin von den Ver­heißungen der Französischen Revolution und ihrem Traum von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gepackt. Er verband mit seiner Reise daher durchaus die politische Hoffnung, in Frankreich das «gelobte Land» zu finden. Stattdessen musste er feststellen, dass die Freiheits­bäume dort längst verdorrt waren und Napoleon eine Art Polizeistaat errichtet hatte. Auch dies ein Grund, warum er aufgelöst und desillusioniert nach Deutschland zurückkam.

MAK | Sind Sie denn Hölderlin und dem Rätsel um seine «Winter­reise» nähergekommen oder ihm gar anders begegnet, weil Sie ihn nicht nur gelesen und intensiv studiert, sondern «erlaufen», manchmal auch «erlitten» haben?
TK | Oh ja, wir sind gute Wanderfreunde geworden, sehr vertraut miteinander und im sicheren Wissen, dass wir uns aufeinander verlassen können. Ich respektiere ihn in seinem Anderssein, und er lässt mir genügend Freiraum, mir meine eigenen Gedanken zu machen. Ich verstehe nun sehr viel mehr von seinem Werdegang und seinen Gedankengängen, glaube auch einige Details davon besser zu kennen und schätze ihn dadurch umso mehr.

MAK | Was haben Sie denn anders oder neu an ihm verstanden?
TK | Zunächst einmal hat sich mein Bild von seiner Statur verändert. Hölderlin war keineswegs die zerbrechliche Gestalt, wie sie uns sein berühmtes, immer und immer wieder reproduziertes Bild vermittelt – ein blondgelockter Jüngling mit zarter Haut und zartem Sinn. Seine Schwester hatte schon bemängelt, dass dieses Porträt so gar keine Ähnlichkeit mit ihm habe. Nein, er war ein eher großer Mann von 1,80 m, durchaus kräftig gebaut und auch leicht cholerisch. Gleichwohl natürlich ausgestattet mit einem unvergleichlichen Wahrnehmungsvermögen und einer einzigartigen Sprachbegabung. Damit hat auch meine zweite Entdeckung zu tun. Hölderlins Dichtung gilt ja vielen als eher abgehoben und weltfremd. Wenn man aber genauer hinschaut und hinhört, stellt man fest, wie ungeheuer konkret er in seinen Beobachtungen und Beschreibungen ist. Man sollte ihn manchmal einfach wörtlich nehmen, um zu erfassen, was er meint. Und schließlich habe ich eine Vorstellung davon gewonnen, was ihn bei seinem Frankreichaufenthalt so aus der Bahn geworfen hat. Es war für mich eine Mischung aus mehreren Momenten – einer Überfülle von sinnlichen Eindrücken, die Erfahrung politischer Desillusionierung, das Gefühl, in einer schriftstellerischen Sackgasse zu stecken, und der Schock über den Tod der Liebe seines Lebens, die ihn niedergestreckt haben.

MAK | Und was haben Sie an sich selbst neu oder anders kennengelernt?
TK | Die Lust des Aufbruchs, die faszinierende Erfahrung, von Tag zu Tag zu leben, ungekannte Räume zu durchschreiten und unbekannten Menschen zu begegnen. Jeden Abend an einem anderen fremden Tisch zu sitzen und unvermittelt den anderen nahe zu sein. Eine ungeheure Erfahrung der Offenheit.

MAK | Sie sind in Baden-Württemberg aufgewachsen, ich im Saarland – wenn wir zwei nun gemeinsam wandern würden, gäbe es Unterschiede jenseits der männlichen und weiblichen Komponente?
TK | Ja, da gibt es eine eigentümliche Sache. Forscher der Universität Chemnitz haben nämlich fest­gestellt, dass es bei den Wanderern nicht nur körperliche Unterschiede gibt, sondern auch kulturelle. Auch die Deutschen gehen unterschiedlich schnell: Hannoveraner sind die Schnellsten, sie legen im Durchschnitt 1,49 Meter pro Sekunde zurück. Dann kommen die Stuttgarter und die Münchner. Die Menschen aus Trier und Saarbrücken lassen es im Vergleich recht gemächlich angehen. Sie schaffen gerade mal 1,38 Meter pro Sekunde. Ich wäre aber bereit, mich Ihrem Schritt anzupassen.

MAK | Überlassen wir doch Hölderlin die letzten Worte unseres Gesprächs. Welche wählen Sie?
TK | Da nehme ich zwei Verse aus der Elegie Brot und Wein, die Hölderlin genau ein Jahr vor seinem Bordeaux-Abenteuer verfasst hat: «So komm! Daß wir das Offene schauen, / daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.»