Mode bringt Farbe und Vielfalt in unseren Alltag, betont mal die Figur mit enganliegenden Jeans, zeigt unsere gute Laune mit einer bunten Frühlingsbluse, vermittelt Seriosität mit Anzug und Krawatte. Doch was vor zehn Jahren noch «in» war, scheint heute seltsam: Jacken in Signalfarben, kleine Handtaschen, unmöglich! Was steht dahinter?
Die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen hat sich mit dem Wandel der Moden befasst, ist inzwischen aber auch zu einer «Expertin» in einem anderen Gebiet des Wandels geworden, das uns alle erreicht: das Älterwerden. Ihr biographischer, schmaler Band «Älter werden» ist ein Bestseller, obwohl darin keine Ratschläge gegeben werden, wie man jung und fit bleiben kann. Mit wissenschaftlich geschultem Denken, in klarer Sprache schaut sie gelassen auf die Zeit der letzten 50 Jahre, das eigene Leben. Sie scheint zudem eine Meisterin darin, Dinge, die nicht zu ändern sind, mit Heiterkeit und feiner Distanz zu betrachten. Auch ihr neuer Roman «Nur Mut» (beide Bücher sind im Verlag S. Fischer erschienen) ist eine abwechslungsreiche und spannende Lektüre über vier ältere Damen in einer gut funktionierenden, privat organisierten Wohngemeinschaft – bis etwas passiert, etwas frei wird, das niemand erwartet ...
Doris Kleinau-Metzler | Frau Bovenschen, Sie haben sich als Literaturwissenschaftlerin mit Mode befasst, aber auch selbst Freude an Mode. Wie hat sich das im Laufe Ihres Lebens entwickelt, gewandelt?
Silvia Bovenschen | Im Alter von zehn Jahren wusste ich – ganz im Gegensatz zu den heutigen Kindern – nicht einmal, dass es so etwas wie Mode gibt. Erst etwa vier Jahre später begann ich, mich für das, was ich an meinem Leib brachte, zu interessieren. Dazu muss ich erwähnen, dass es damals in meiner Großstadt außer den Kaufhäusern und zwei oder drei teuren Geschäften für die «elegante Dame» keine Einkaufsmöglichkeiten gab. Die Boutiquen kamen erst Jahre später über das Land. Auch das wird sich die heutige Jugend kaum vorstellen können. In der Oberstufe des Gymnasiums zeichnete ich, wenn ich mich im Unterricht langweilte – und ich langweilte mich oft – Kleider und Kostüme, die ich gerne tragen wollte. Gelegentlich, wenn ich etwas Taschengeld gespart hatte, brachte ich diese Entwürfe zu einer alten Schneiderin, die nicht viel Geld für ihre Arbeit verlangte. Manchmal fiel eine Kreation etwas theatralisch aus, manchmal, das sagt ein Foto, konnte sie sich durchaus sehen lassen. Noch später, zur Zeit meines Studiums, war modische Kleidung verpönt. Es war die Zeit der Studentenrevolte. Ich habe mich aber den Verboten nicht unterworfen. Ich habe zahlreiche Moden kommen und gehen sehen. Viele habe ich übersprungen: zum Beispiel alle, die ins Infantile oder ins Neckische wiesen.
DKM | Wenn man im Alltag um sich schaut, sind die Geschmäcker offensichtlich unterschiedlich. Nach welchen Kriterien wählen wir ein Kleidungsstück aus? Auf manchen Fotos mit einem Kleid von vor 30 Jahren finden wir uns heute unmöglich.
SB | Ich gehe eine Bluse kaufen. Ein Geschäft bietet eine große Auswahl. Ich wähle intuitiv. Warum mag ich diese Bluse und jene nicht? Warum gefallen mir bestimmte Farben oder Schnitte und andere nicht? Wie komme ich zu meiner Wahl? Ich glaube, dem liegt ein wildes Gemisch aus kulturellen, sozialen und ästhetischen Erfahrungen zugrunde. Das Bild, das ich von mir habe, spielt eine große Rolle. Die erste Bluse, die ich sehe, kommt nicht infrage, sie ist für mich untrennbar mit einem betulich-konservativen Frauentypus verbunden. Die nächste auch nicht – die Erfahrung lehrt, mir steht ihr Farbton nicht. Eine andere Bluse bleibt hoffnungslos hinter allen modischen Vorgaben zurück, die nächste übertreibt die modische Ansage. Diese ist zu bieder, jene signalisiert ein erotisches Entgegenkommen, das ich nicht einlösen will. Und so weiter. Vieles daran ist uns nicht bewusst. Was wir aber wissen oder zumindest ahnen: Kleidung lässt sich lesen, wir werden von anderen nicht zuletzt nach der textilen Ausstattung beurteilt. Die Fotos, die vor dreißig Jahren aufgenommen wurden, schrecken mich nicht. Auf den Bildern aus jener Zeit sehen alle Leute merkwürdig aus. Der zeitliche Abstand sorgt in vielen Fällen für eine ästhetische Begnadigung. Fürchten müssen wir die Fotos, die unsere Modesünden von gestern dokumentieren.
DKM | Heute gibt es nicht nur neue Jeans mit Löchern, sondern auch den Retro-Look, zum Beispiel für Möbel und Kleider aus den 50er-Jahren. Sind das nur zufällige Phänomene?
SB | Nein, das glaube ich nicht. In Zeiten des Umbruchs, der großen Verunsicherung sehnen sich die Menschen nach bewährten Formen und Ritualen, die Halt versprechen. Das nennt sich Restauration. Das war so in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den Auswirkungen der industriellen Revolution und das ist auch heute so, da die Angst umgeht, dass die digitale Revolution noch massiver auf unsere privaten Lebensgewohnheiten einwirken wird.
DKM | Für Frauen hat sich die Mode in den letzten Jahren geändert: Hosen sind selbstverständlich geworden. Bei der offiziellen Geschäftskleidung entsprechen Hosenanzug und Bluse dem Anzug mit Hemd und Krawatte der Männer, wirken fast gleich. Ausdruck von Gleichberechtigung oder Anpassung?
SB | Zur Zeit meines Abiturs 1966 trug ich vornehmlich enge Röcke mit Dior-Falte und hohe Pumps. Trotzdem gab es die Überlegung, bei welchen beruflichen Tätigkeiten es statthaft wäre, Hosen zu tragen. Es fielen nahezu alle «gehobenen» Berufe weg (Ärztin, Studienrätin, Rechtsanwältin etc.). Selbst eine Verkäuferin in Hosen war nicht denkbar. Das Hosenverbot wurde langsam aufgeweicht. Yves Saint-Laurents Präsentation des eleganten Hosenanzugs für die Frau im Jahr 1967 (Le Smoking) markiert den Durchbruch. Die Frauenmode hat seitdem große Anleihen bei der Männermode gemacht, während diese schon lange zuvor mehr und mehr alle verspielten und schmückenden Anteile abgelegt hatte. Sie hat sich seit der Französischen Revolution, seit die Kniebundhose der langen Hose weichen musste, nur noch unwesentlich verändert.
DKM | Im Alltag ist heute Funktions- oder Sportkleidung fast überall anzutreffen, beim Einkaufen, in Restaurants. Kann man überall alles tragen – sollte man das können?
SB | Vielleicht zeigt diese vereinheitlichende Dominanz der Funktionskleidung eine Entwicklung an, vielleicht wird es die Trennung zwischen der heimisch/privaten und der öffentlich/ beruflichen Sphäre immer weniger geben, weil die Arbeit zunehmend am Computer erledigt werden wird, ganz unabhängig von dem Ort, an dem man sich befindet. – Für mich spielt das alles keine Rolle mehr. Ich kleide mich mir zum Gefallen und als Höflichkeit gegenüber anderen. Wenn ich in die Oper gehe, ziehe ich mir etwas Schönes an. Ich übertreibe nicht, aber einen kleinen festlichen Anklang darf es haben. Ich tue das nicht, um der Konvention zu genügen, sondern um die Künstler zu ehren. Wenn, wie kürzlich, neben mir eine junge Frau in Jeans sitzt, bin ich nicht schockiert – wohl aber, wenn sie während der Darbietungen aus einer Plastikflasche Wasser trinkt. Auch bin ich nicht begeistert davon, dass die Männer jetzt, kaum dass es ein wenig wärmer wird, die Beine freilegen. Ist eine lange Leinenhose wirklich so viel wärmer, frage ich mich, und ich frage mich im gleichen Moment, ob das nicht schon die Kritik einer alten Frau mit überkommenen Maßstäben ist.
DKM | Nicht nur die Mode, auch das Älter-Werden scheint sich zu ändern: Man kann aufgrund der vielen Ratschläge für das Alt-Werden den Eindruck gewinnen, man könne garantiert uralt werden und gesund bleiben – wenn man sich richtig ernährt, Sport treibt, alle Vorsorgeuntersuchungen wahrnimmt usw. Wie gehen Sie mit dem Thema um?
SB | Ich fürchte, es gibt da ein fatales Missverständnis. Auch die, die alles «richtig» machen, die nicht rauchen, keinen Alkohol trinken, auf das Cholesterin achten und den Zuckerkonsum, die Sport treiben und auf ihr Gewicht achten – auch sie werden sterben müssen. Vielleicht etwas später als die Unvorsichtigen, aber auch sie werden zumeist nicht überraschend im Schlaf dahingehen – diese Gnade wird nur wenigen zuteil –, sondern auch sie werden an einer Krankheit leiden, vielleicht ein langes Siechtum auf sich nehmen müssen. Wenn ihnen das bewusst wäre, würden sie sich vielleicht etwas mehr für «Gesundheitspolitik», für den Zustand unserer Krankenhäuser und die Zweikassenmedizin interessieren.
DKM | Menschen können durch ein schweres Schicksal traumatisiert werden, daran zerbrechen. In Ihrem Band Älter werden schreiben Sie (weil Ihnen aufgrund Ihrer schweren chronischen Krankheit geraten wurde, keine Kinder zu bekommen): «Hätte ich mir die Verbitterung über dieses Verbot nicht verboten, hätte ich lebenslang an der Ungerechtigkeit des Schicksals gelitten …» (S. 137) Warum, wie verbietet man sich eine Verbitterung darüber?
SB | Das war nicht so edel, wie es vielleicht scheint. So verständlich es sein mag, dass Menschen, die ein unverschuldetes Leid ertragen müssen, verbittern, so ist es doch leider so, dass niemand auf
die Dauer mit einem verbitterten Menschen Umgang haben will. Sie sehen, das Verbot entsprang dem reinen Egoismus.
DKM | Was ist Ihnen heute, älter geworden, wesentlich? Was verbinden Sie mit «in Würde altern, sterben»?
SB | Das Schreiben ist mir wichtig. Es ist meine zweite Welt, eine Welt, die ich mir schaffe, in die ich ganz eintauche – solange es noch geht. Die Menschen, die mich mögen, sind mir sehr wichtig. So wie schöne Alltagsgegenstände, die ich gerne ansehe oder anfasse; die Musik, die ich gerne höre; die Bilder, die ich gerne ansehe … da ist vieles noch, das mir Freude macht. Aber ich weiß auch, dass all das ein Ende fände, in dem Moment, in dem ich krankheitsbedingt meine Selbstbestimmung gänzlich verlöre. Ich verlöre damit auch meine Würde. Deshalb wäre es ein großer Trost für mich, ja es würde mein Leben verschönern, meine Schaffenskraft verlängern, wenn ich die Mittel hätte, meinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen oder – für den Fall, dass ich es selbst nicht mehr könnte – Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Menschen, die dies aus religiösen oder anderen Gründen ablehnen, sind davon ja nicht betroffen, aber warum bestimmen sie über mich? Ich finde das ungeheuerlich, und es macht mich fertig, wie unsere Politiker darüber sprechen: im gleichen Duktus, in den gleichen Tonlagen, in denen sie auf ihren Parteitagen sprechen. Da ist nichts zu hoffen.