Viele Leserinnen und Leser kennen Birte Müller durch «Willis Welt». Ihr Sohn Willi ist sieben Jahre alt und hat das Down-Syndrom und das West-Syndrom, eine schwere Form der Epilepsie. Wie Birte Müller mit Wahrhaftigkeit und Humor aus dem Leben mit Willi, der fünfjährigen Olivia und – selten – einem wichtigen Menschen im Hintergrund, ihrem Mann, berichtete, ging zu Herzen. Mehr noch, die Schilderungen aus ihrem anstrengenden Alltag ermöglichen den Sprung vom Lesen, sich gut unterhalten Fühlen, zu dem, was uns selbst betrifft: Was ist uns eigentlich wichtig im Alltag, was ist ein lebenswertes Leben? Auf den Weg zur Beantwortung dieser Fragen muss sich jeder allein machen. Das Leben gibt uns Hinweise – und die Kraft, die wir brauchen, wie Birte Müller erfahren hat: «Ich weiß, dass das alle Eltern packen würden. Die Kraft kommt, sie entsteht dabei.» Diese Kraft ist nicht trainierbar, nicht einplanbar, kommt nicht aus dem Streben nach dem, was logisch scheint (Erfolg, Bequemlichkeit), sondern entwickelt sich, unerwartet, zum Beispiel «aus der Liebe, die dieses Kind in uns auslöst, immer wieder neu.»
Doris Kleinau-Metzler | Frau Müller, Sie sind außer Mutter von Willi und Olivia Kinderbuchillustratorin und Autorin. Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen?
Birte Müller | Malen, überhaupt das Schaffen mit den Händen, war mir immer ein Lebensbedürfnis, schon als Kind. Im Gegensatz zu meiner restlichen Familie hatte sich in mir auch ein Fernweh gesammelt, und so bin ich nach dem Abitur erst mal für ein halbes Jahr nach Australien gegangen. Die Ferne und das Andere haben mich absolut erfüllt und ein eigenes Lebensgefühl erzeugt, dieses Weit-weg-zu-Sein (nach dem ich auch heute noch ein bisschen süchtig bin). Dann fing ich an, Design zu studieren und stieß auf den Kurs «Bilderbuchillustration». Und gleich bei der Kursvorstellung von Professor Rüdiger Stoye wusste ich: «Das ist mein Traumberuf!» Um mich mal einem Kulturschock auszusetzen, habe ich ein Auslandssemester in Mexiko gemacht und lebte später für einige Zeit in einem bolivianischen Dorf.
DKM | In den freien und künstlerischen Berufen ist es sicher nicht leicht, damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
BM | Es ist schwierig, besonders wenn man lange an den Büchern arbeitet; ich kann maximal ein Buch im Jahr machen. Zum Glück habe ich schon während des Studiums angefangen, gemeinsam mit anderen Studenten auf Buchmessen zu fahren; dort haben wir auch das Mappe-Zeigen (mit unseren Entwürfen) geübt. Man steht lange in einer Schlange, hat vielleicht 20 Gespräche und 20 Absagen. Letztlich habe ich von manchen Gesprächen profitiert, denn ich erfuhr so, auf was die Verlage schauen. Aber unfair finde ich, wenn jemand irgendeinen Praktikanten, der wirklich keine Ahnung hat, die Mappen durchsehen lässt. So ist das In-der-Schlage-Stehen sehr entwürdigend, mit Herzblut in der Tasche … Als ich meine ersten zwei Buchprojekte fertig hatte und ein Jahr darauf Herr Meier und Herr Müller erschien, war ich ein anderer Mensch. Und dieselben Leute, die das Buch abgelehnt hatten, haben mir gratuliert und gesagt: «So gerne hätten wir das Buch in unserem Verlag gehabt!» Damals habe ich mich nicht getraut zu sagen: «Sie hätten es ja haben können …» Aber außer zu illustrieren, wollte ich auch gern ein bisschen in der Welt herumkommen. Da kam nach meinem ersten Bilderbuch die Einladung vom Goethe-Institut nach Mexiko auf die Buchmesse – und Veranstaltungen für Kinder sind inzwischen mein zweites Standbein. In den letzten 15 Jahren war ich vom Goethe-Institut aus in vielen Ländern, in die ich sonst vielleicht nie gekommen wäre – im Libanon, in Palästina, Armenien, Georgien oder Venezuela.
DKM | Für wen sind die Veranstaltungen im Ausland?
BM | Das kommt auf das Goethe-Institut an: Manche richten sich an deutsche Schulen, in denen aber mehrheitlich meist nicht-deutsche Kinder sind, einige Institute haben Projekte, bei denen es um Kinder aus armen oder bildungsfernen Familien geht. Manche Kinder haben noch nie ein Buch vorgelesen bekommen. Mit welcher Begeisterung, mit welcher Freude und Dankbarkeit sie beim Malen und Zeichnen waren! So eine ehrliche Wertschätzung für ihr eigenes freies Malen, noch dazu von jemand von außen, kennen diese Kinder oft nicht – und begreifen staunend, dass sie es sind, die so etwas Tolles hervorbringen.
DKM | Was ist Ihr Anspruch an Ihre künstlerische Arbeit?
BM | Nach außen kann ich nicht vermitteln, warum ein Bild noch nicht fertig ist und warum ich so lange daran arbeite. Jedes meiner Bilder muss mir richtig gut gefallen. Wenn ich erst mal eine zündende Idee zu einem Bildaufbau habe, übermale ich – immer wieder. So entstehen mehrere Schichten, die Bilder verändern sich, wachsen. Auch wenn ich stilistisch sehr unterschiedliche Bilderbücher gemacht habe, scheint die Pinselstruktur immer hindurch. In Planet Willi ist das Malerische reduziert, denn ein Kind mit geistiger Behinderung wie Willi muss durch die klaren Formen die Möglichkeit haben, die Bilder deutlich zu erkennen. Die Bilder in Auf Wiedersehen, Oma sind dagegen von der malerischen Gestaltung sehr offen, alles fließt, bildet eine bestimmte Atmosphäre. Das schaut unsere fünfjährige Tochter lange und gern an.
DKM | Wie hat sich Ihre Arbeit durch die Geburt von Willi verändert?
BM | Bevor ich Kinder hatte, dachte ich: Was machen die alle für ein Theater mit ihrem Kind? Wie sind die alle überbehütet …! Mein Kind passt sich an mein Leben an und dann klappt alles gut. Meine netten Atelierkameraden passen abwechselnd eine Stunde auf, einer fährt dann ein Stündchen mit dem Kinderwagen herum, Mathias kommt mit auf Lesereise, dann kann ich das Baby in den Pausen stillen … So habe ich mir das vorgestellt (heute weiß ich, dass das auch bei einem normalen Kind so nicht funktioniert).
Und dann hat das Schicksal einen riesigen Gong geläutet und gesagt: Nicht das Kind passt sich an, sondern du passt dich an das Leben deines Kindes an! Das habe ich mit der Stunde der Geburt von Willi lernen müssen. Praktisch habe ich die ersten zwei Jahre überhaupt nicht gearbeitet. Wir waren fast nur im Krankenhaus, es kam zu einer lebensbedrohlichen Grenzsituation nach der anderen, alles war enorm kompliziert, und es gab gar keinen Raum für irgendetwas anderes als Willi.
DKM | Gab es den Gedanken: Sterben wäre besser für Willi, für alle?
BM | Eine Freundin sagte zu mir: «Ich würde dir so wünschen, dass er einfach stirbt.» Das hat mich so verletzt, weil sie nicht begriffen hat, dass das für mich keine Erleichterung wäre. Wenn ich darüber rede, wie furchtbar diese ersten zwei Jahre waren, als er immer krank war, weiß ich, dass es nur noch eine furchtbarere, schlimmere Sache hätte geben können – ihn zu verlieren. Dieser Schmerz, den wir gespürt haben, direkt nach der Geburt, als klar war, dass Willi behindert ist, dieser Weg bis zur Akzeptanz seiner Behinderung – nur er, seine Existenz konnte uns über diesen Schmerz trösten. Wir haben die ersten Wochen viel geweint … Und ich wusste ja auch nicht, dass ich die Kraft habe, dieses Leben zu führen. Aber diese Kraft – und das ist das Besondere an Willi, das erlebe ich –, die generiert er in mir, die kommt immer wieder aus mir heraus, und zwar aus der Liebe, die dieses Kind bei uns auslöst. Sie kommt aus der Nähe, die man natürlich zulassen muss. Wenn manche sagen: «Das würde ich nicht schaffen», wäre es ehrlicher zu sagen: «Das möchte ich nicht, diesen Stress, weil mein Kind anders aussieht. Ich möchte kein Kind, von dem ich weiß, dass es nie Abitur macht und studiert.» Das versuche ich dann zu akzeptieren. Aber ich weiß: In meinem Leben wäre ein schwarzes Loch entstanden, wenn Willis Behinderung vorher erkannt worden wäre und wir seine Geburt verhindert hätten. Dieses ganze Glück, das wir mit Willi haben, und noch viel, viel mehr, hätte dieses Loch gefressen …
DKM | Zur Vorfreude auf ein Kind kommen die eigenen Erwartungen an das Kind, und die Vorstellung, wie vorbildlich man alles machen will, fördern …
BM | Ja, als wir akzeptiert hatten, dass Willi das Down-Syndrom hat, wollte ich der Welt zeigen, was man alles bei guter Förderung erreichen kann. Aber dann hat durch seine weitere Behinderung nochmal die Glocke geläutet: Hast du immer noch nicht begriffen, dass du diesen Menschen nur für sich selbst lieben musst, und nicht für das, was er leistet? Wir übertragen das Anspruchsdenken, die Ziele, die wir für uns Erwachsene haben, auf die Kinder – und das ist eine Katastrophe. Ich muss jetzt nicht mehr jede Förderung nutzen. Ich weiß heute: Das Leben ist nicht planbar. Und für Willi, für jeden Menschen gilt: Er muss mir ja nichts bringen. Er darf einfach so da sein. Er ist für mich was wert! Willi will leben, einfach aus sich heraus, so wie auch wir. Alles Klassifizieren nach Leistung und Erfolg, in lebenswerte Behinderung und nicht-lebenswerte Behinderung verleugnet, dass alle Menschen, auch sehr stark Behinderte, einfach leben wollen – und gute Unterstützung für sie notwendig ist.
DKM | Das Leben ist nicht planbar, zum Glück. Aber mit Leiden umzugehen, ist schwer.
BM | Manche sagen: «Die armen Kinder sollen nicht leiden.» Auch bei meinen Lesungen mit Schulklassen arbeite ich immer wieder heraus: Der Willi leidet nicht an seiner Behinderung, und zwar überhaupt nicht! Als er krank war, hat er gelitten, aber diese Krankheiten hatten nichts mit seinem Down-Syndrom zu tun. Ansonsten – und das trifft auf viele Menschen mit Behinderung zu – leidet er, wenn er leidet, unter den Reaktionen der Außenwelt auf seine Behinderung, nicht durch die Behinderung selbst. Willi verhält sich komisch, er kann nicht sprechen, fasst dich an, geht ganz nah ran. Es ist normal, dass andere Kinder überrascht und mit Unsicherheit reagieren. Da müssen wir Erwachsene führen, vermitteln. Und da reicht es auch überhaupt nicht, dass das Motto der derzeitigen Inklusionsdebatte heißt: «Wir sind doch alle irgendwie anders». Es gibt Menschen, die sind nochmal ganz anders. Ein mehrfach behindertes Mädchen kann nicht einfach so «mitlaufen», sondern sie braucht, um teilzuhaben, eine extreme Sonderbehandlung. Unterschiede herunterzuspielen und überall ein bisschen oberflächlich Integration betreiben, ist weder für die Behinderten noch für die Mitschüler gut. Auch für eine echte inklusive Gesellschaft brauchen, ja, haben wir Kraft – wenn wir wollen.