Können Sie sich vorstellen, dass Sie Tag für Tag so viel essen wie möglich (das eigene Sättigungsgefühl ignorierend) – und immer schlank bleiben? Wohl eher nicht. Aber was bei uns nicht geht, soll der Organismus Erde verkraften? Unendliches Wachstum ohne Folgen – trotz begrenzter Rohstoffe und bedrohlicher Veränderung des Weltklimas? Wo soll die neue Erde eigentlich herkommen? Na ja, wir haben uns irgendwie an den Gedanken gewöhnt, irgendwie geht es schon … Eher nicht. Aber kann ich als Einzelner etwas daran verändern? Ja, wenn ich selbst denke und entsprechend meinen Möglichkeiten handle, sagt Prof. Dr. Harald Welzer, Sozialwissenschaftler und Mitbegründer der Stiftung «Futurzwei». «Selbst denken» (so der Titel seines Buches), statt im Gewohnten zu verharren, ist der Anfang. «Futurzwei» sammelt Beispiele, wie Menschen ihre Spielräume nutzen, um ihr Leben und Arbeiten nachhaltig zu gestalten. Im «Futurzwei-Zukunftsalmanach» (beide Bücher sind im S. Fischer Verlag erschienen) sind viele dieser «Geschichten vom guten Umgang mit der Welt» nacherzählt.
Doris Kleinau-Metzler | Herr Welzer, der Untertitel Ihres Buches Selbst denken lautet: Eine Anleitung zum Widerstand. Wogegen?
Harald Wälzer | Dagegen, dass unsere Lebens- und Überlebensgrundlagen mit immer noch wachsender Geschwindigkeit zerstört werden. Und dagegen, dass man selbst Teil dieser Zerstöung ist. Faktisch gibt es kaum Widerstand, weshalb jedes Jahr ein neues Weltrekordjahr im Material- und Energieverbrauch und in den Emissionen ist. Aber es gibt viele Fürsprecher der weiteren Zerstörung der Welt – wie zum Beispiel alle, die Aktien von Mineralölunternehmen haben. Wir haben eine Wirtschaft und eine daran gekoppelte Gesellschaft, die in keiner Hinsicht nachhaltig ist, weil sie prinzipiell darauf basiert, dass man aus immer mehr Ressourcen immer mehr herausholt, damit noch mehr Konsum möglich ist. Der neue Kühlschrank mit A+++ muss größer sein als der alte, der aber noch ganz prima lief. Den Leuten wird systematisch nicht erzählt, dass die Aufwendungen, diesen neuen Energiespar-Kühlschrank zu produzieren, weitaus höher sind als das, was wir jemals durch den Neukauf an Energie einsparen können.
Widerstand dagegen heißt selbst denken, erkennen, was jenseits der gewohnten Verlautbarungen Tatsache ist – und handeln.
DKM | «Selbst denkend» sind Sie aus einer sicheren beruflichen Position im wissenschaftlichen Bereich ausgestiegen, haben damit eine gewisse Unsicherheit akzeptiert – und Futurzwei mitbegründet, engagieren sich vielfältig. War es denn kein guter Job vorher?
HW | Ich würde es andersherum sagen: Wenn man etwas 20 Jahre gemacht hat, weiß man, wie es geht, überschaut die Möglichkeiten in diesem Bereich. Wenn man aber denkt, man könne mehr mit seinen Möglichkeiten machen, und tut es nicht, dann ist das verschenkt.
DKM | Nach 20 Jahren in einem Beruf haben wahrscheinlich auch andere Menschen Lust, etwas Neues oder Sinnvolleres zu machen – aber Angst vor der Ungewissheit.
HW | Ja, ich will niemandem in Abrede stellen, dass das Beharren sehr gute Gründe hat. Soziale Absicherung ist ein hohes Gut und für die meisten Menschen sehr wichtig. So ein Entschluss wie meiner lässt sich sicher nicht verallgemeinern, mein Risiko kann ich gut überschauen. Die Angst, der soziale Druck, nicht abzusteigen, sind für die meisten Menschen enorm, das sollte man nicht unterschätzen; jeder, der durch die Maschen des sozialen Netzes fällt, sieht sich ja dann so, wie er vorher die gesehen hat, die bereits in dieser Situation waren. Allerdings sollte man solche Risiken eingehen, wenn man denkt, man könne mehr aus seinen Möglichkeiten machen. Auf jeden Fall muss einen das nicht abhalten zu überlegen: Will ich eigentlich so leben, wie ich jetzt gerade lebe – und wie alle denken, dass ich leben soll?
DKM | Dann kommt schnell das große ABER – die Umstände hindern mich, die Angehörigen …
HW | Über den Punkt muss man hinweg. Für meine Wünsche und Träume sind die anderen nicht zuständig! Ich denke, Menschen sollten ihre Tagträume viel ernster nehmen – nicht im Sinne von sich-irgendwo-ideal-hinträumen, sondern in dem Sinne, dass sie sich diese Träume als etwas Erreichbares vorstellen. Das ist ja genau der Antrieb, um auszuprobieren, wie weit man kommt. Wir haben berechtigte Wünsche – zum Beispiel, dass das Leben schön ist. Oder dass ich nicht mein Leben lang frühmorgens aufstehen muss. Wenn man seine Wünsche ernst nimmt, ist das ein schönes Motiv, um aus dem Träumen zum Handeln, zum Ausprobieren zu kommen.
Es gibt so viele Beispiele, an denen deutlich wird, wie Menschen Dinge bewegen können, von denen sie geträumt haben – und andere nicht, die sich in genau der gleichen Situation befinden.
Der Grünraum-Planer von Andernach hat einen Job wie tausend andere, aber er kam auf die Idee, die Stadtbegrünung anders als nur zum Anschauen zu nutzen, nämlich zur Bepflanzung mit Obst und Gemüse. Damit änderte sich auch das soziale Klima seiner Stadt. Und diese Idee greifen nun andere Städte auf, wie aktuell Mainz. Dabei hatte der Stadtplaner die gleichen Bedingungen wie seine Kollegen, aber er hatte eine Vision davon, wie es anders sein könnte, und hat dann seinen Handlungsspielraum genutzt.
DKM | Wenn ich jetzt so etwas in unserer Stadt anrege, befürchte ich, dass ich ziemlich frustriert werde …
HW | Klar, die Kräfte des Beharrens, des Haben-wir-immer-schon-so-und-nicht-anders-gemacht, sind viel größer als die Kräfte der Veränderung. Da muss man lernen, mit Frustrationen und Rückschlägen umzugehen, jeder auf seine Art – und schauen, was die eigenen Möglichkeiten vor Ort sind. Aber wir sehen immer wieder bei unserer Sammlung von Geschichten für Futurzwei, dass es Menschen gelingt, enorm viel zu bewegen. Und das Coole dabei ist, finde ich, dass sie nicht nur etwas bewegen, sondern dabei etwas mit ihnen selbst passiert, nämlich in ihrem Selbstgefühl – weil es einfach Spaß macht, sich als jemand zu erleben, der wirksam wird, gemeinsam mit anderen. Psychologen nennen das «Selbstwirksamkeit».
Wir leben ja in einer Fremdversorgungsgesellschaft, die einem alles Notwendige für das tägliche Leben abzunehmen scheint, sofern man geregelt arbeitet, gut verdient und konsumiert. Für alles ist gesorgt, von der Wiege bis zur Bahre kümmert sich jemand: das Auto denkt für dich beim Einparken, das Handy bei den Terminen, die Politik so und so – alle denken angeblich für dich. Die zentrale Erfahrung ist heute, nicht wirksam zu sein, sondern bewirkt zu werden. Das ist eigentlich ein unangenehmes, negatives Gefühl. Aber das Gefühl, selbst etwas beizutragen, wirksam werden zu können und damit zu einer Veränderung beizutragen, ist eine extrem positive Erfahrung! Dabei geht es nicht um Effizienz wie in der Wirtschaft, sondern um eigene Erfahrung, um Einflussnehmen auf meine Welt, in der ich jetzt lebe. Ob ich im Grünstreifen etwas anpflanze oder eine Familie mit einem behinderten Kind ehrenamtlich unterstütze – entscheidend ist nicht das messbare Ergebnis, sondern das soziale und psychologische. Wer sagt: «Das bringt doch nichts …»,
der sagt auch: «Ich will nur am Bestehenden festhalten. Ich glaube nicht an Veränderungen, nicht an meine Bedürfnisse, Träume und mein Glück.»
DKM | Aber kann ich allein denn etwas verändern?
HW | Wer soll die Welt denn sonst verändern? Irgendeine Bewegung, irgendjemand aus der Politik, ein Unternehmer, die Weltregierung … auf alle Fälle wohl jemand anderes? Die Antwort darauf ist: Nein! Niemand kann die Welt verändern außer: Sie und ich. Es gibt niemand anderen, der dafür zuständiger wäre! Das ist der entscheidende Punkt. Und wenn man das verstanden hat, fängt man an, nach Gelegenheiten zu suchen, wie man seine eigenen Möglichkeiten nutzen und ganz konkret handeln kann.
DKM | Man liest und sieht in den Medien viel zum Umweltschutz, kauft vielleicht Bioprodukte. Und eigentlich denkt man doch schon den ganzen Tag …
HW | Als Konsument reagieren wir nur, werden als Biokonsumenten eingeplant in den Absatzmarkt – wir gestalten oder handeln aber nicht selbst, sind nicht selbst aktiv beteiligt an einer Veränderung. Auch da werden wir vielmehr gedacht, als dass wir denken: Das heißt wir überlegen nicht ständig, was wir als Nächstes tun, zur Arbeit fahren oder nicht, das oder jenes kaufen – es sind Gewohnheiten, Ansichten. Das tun wir nicht nur aus Bequemlichkeit, sondern natürlich ist es auch eine Entlastung, wenn man nicht permanent wieder über alles neu nachdenkt, was man vorfindet oder was sich entwickelt hat. Es ist nun mal bequemer und einfacher, Bestehendes zu übernehmen – und andere denken zu lassen.
Selbst-Denken ist dagegen eher wie eine anstrengende Übung. Und es ist nicht so einfach, wie man meint, tatsächlich selbst zu denken. Das bedeutet ja auszutreten aus dem Kreis der Übereinstimmenden, Vertrautes infrage zu stellen, sich auf ungewissem Gebiet zu bewegen – indem ich zum Beispiel wie aus der Vogelperspektive über den Alltag hinausschaue und mir überlege: Was passiert hier eigentlich, von dem ich Teil bin? Finde ich das alles gut, auch wie ich lebe? «Selbst denken» ist eine Aufforderung! Man kann es auch als Erwachsen-Werden bezeichnen, denn Erwachsen-Sein bedeutet, dass ich nicht alles mitmachen muss, mir nicht alles Mögliche einreden lasse – sondern unterscheiden kann zwischen dem, was wichtig und was unwichtig ist.
DKM | Kommt nicht jeder zu anderen Denkergebnissen?
HW | Je nach seinen Lebensumständen und Möglichkeiten. Aber jedes achtjährige Kind kann denken und kommt mühelos darauf, dass eine endliche Welt keine unendlichen Rohstoffe bereithält. Die meisten Politiker sind mit diesem einfachen Gedanken komplett überfordert. Warum ziehen sie keine Konsequenzen aus diesem Sachverhalt? Unsere Gesellschaft heute kreist zu fast hundert Prozent um «Sinnerfüllung durch Konsum». Wir haben keine Vorstellung davon, wie man einen Sozialstaat finanziert ohne Wachstum, worin Leben noch bestehen kann außer in mehr Arbeit, mehr Konsum. Den Leuten wird eingeredet, dass das neue xy-Produkt ein Glück ist, aber das Glücksversprechen wird gleich wieder gebrochen, weil drei Monate später ja schon das Nachfolgeprodukt auf dem Markt ist, das sagt: Kauf mich, dann wirst du glücklicher als mit dem alten Produkt.
Wenn man sich seine Träume und Visionen als etwas Erreichbares vorstellt, dann kann man dieser Fantasielosigkeit, dem Verschwinden von Sinn aus dem lebendigen Leben der Gesellschaft, etwas entgegensetzen, gemeinsam mit anderen handeln. Unser Problem ist nicht, dass wir nicht genug wissen, sondern dass wir nicht selbst denken – und handeln. Handeln ist etwas sehr Greifbares, und es kann beispielhaft für andere Menschen sein. «Das kenne ich doch schon, das bringt nichts …» versperrt den offenen Blick auf meinen eigenen Spielraum, meine Möglichkeiten.