Rolf Bauerdick im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Licht- und Schattenseiten – Zigeuner, Sinti, Roma …

Nr 176 | August 2014

Nicht dass wir etwas nicht wissen, ist oft ein Problem, sondern dass wir uns darüber nicht im Klaren sind. Was sind Tatsachen, was Meinungen, was Klischees oder Vorurteile? Seit über 20 Jahren beschäftigen diese Fragen den Journalisten und Fotografen Rolf Bauerdick in Bezug auf die Gruppe, die bei uns in den Medien «Sinti und Roma» genannt wird. In ihren Herkunftsländern werden sie – so wie bei uns lange umgangssprachlich – mit dem Überbegriff «Zigeuner» bezeichnet (und wollen überwiegend auch so genannt werden, wie Dirk Schürmer in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vom 13.1.2014 feststellt). In seinem Buch «Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk» (erschienen im DVA Verlag) liefert Rolf Bauerdick ein vielschichtiges Porträt dieses Volkes. Er hält sich dabei an kein einfaches Gut-Schlecht-, Links-Rechts-, Opfer-Täter-Schema, sondern sucht in der faktenreichen Auseinandersetzung mit den «Licht- und Schattenseiten» immer wieder nach Zusammenhängen und beschreibt seine Faszination dieses besonderen Volkes. Für seinen Roman «Wie die Madonna auf den Mond kam» wurde Rolf Bauerdick 2012 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Bauerdick, Sie beschäftigen sich schon lange mit dem Thema «Zigeuner». Warum?
Rolf Bauerdick | Nach dem Mauerfall bin ich 1990 gen Osten gefahren, um über die Siebenbürger Sachsen zu berichten, die in Scharen aus dem maroden Rumänien nach Deutschland aus­wanderten. In ihre Häuser zogen Roma ein, mit denen ich mich sofort gut verstand. Ich konnte zwar die Sprache nicht, aber ihr Witz, ihre Herzlichkeit und Ungekünsteltheit sprachen mich an. Aus den Begegnungen entwickelte sich eine Sympathie, die mich immer wieder nach Osteuropa führte, auch um die sozialen Dimension des Themas zu begreifen. Denn die zu bewältigenden Herausforderungen sind enorm. Die Situation der Roma in manchen Regionen, geprägt von Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, Bildungsmangel und Verwahrlosung, ist fatal. Aber sie betrifft nicht alle Gruppen dieses höchst unterschiedlichen Volkes.

DKM | Was meinen Sie konkret mit den Unterschieden?
RB | Wenn man von Zigeunern redet, muss man sich fragen, von wem, von welcher Gruppe, welchem Stamm in welchem Land man redet. Ein Beispiel: Ein alter deutscher Sinto, der als Kind das KZ überlebt hat, besucht mich regelmäßig zum Kaffee. Er leidet darunter, dass der jüngeren Generation wichtige Traditionen seines Volkes immer mehr verloren gehen: der Gemeinschaftssinn, das Erzählen von Geschichten, die Bedeutung des biblischen Wortes oder auch das Schwinden von Tabus wie das der sexuellen Scham. Es entsetzt ihn, dass manche Roma ihre Frauen in die Prostitution zwingen. Undenkbar für die Sinti! Assimiliert sind auch viele Zigeuner, die in den Siebzigerjahren aus dem ehemaligen Jugoslawien als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Weil sie sofort Arbeit fanden, sind sie heute gut integriert und verstehen sich oftmals nicht mehr als Roma. Hingegen bekennen sich die spanischen Kalé viel offener zu ihrer ziganen Kultur, mit der sie die Tanz- und Musik­traditionen ihres Landes geprägt haben. «Soy gitano!», sagen sie mit gesundem Selbstbewusstsein. «Ich bin Zigeuner.» Zugleich hat das wirtschaft­liche Gefälle zwischen den EU-Ländern zu einer Wanderungs­bewegung aus dem südosteuropäischen Raum in die westlichen Metropolen geführt. Mit dramatischen Konse­quenzen. Ärzte, Ingenieure und qualifizierte Arbeitskräfte fehlen in ihren Heimat­ländern, während Roma oft ohne Ausbildung aus existenzieller Not im Westen einen Aus­weg aus ihrer Misere suchen. Struktur­pro­bleme, die in Rumänien, Bulgarien oder Ungarn nach dem Unter­gang der sozialistischen Diktaturen entstanden und nicht gelöst wurden, werden durch die Auswanderung gesamteuropäisch umgelagert.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

DKM | Wie sehen Sie die Lage der Roma in der nachkommunis­tischen Zeit?
RB | Durch massenhafte Arbeitslosigkeit, mangelnde Fürsorge und fehlende Durchsetzung staatlicher Rechtsprinzipien, wie etwa die Kontrolle des Schulbesuchs, sind massive Probleme aufgetreten,
die sich in verstärktem Analphabetismus, mafiösen Clanstrukturen und Gewalt zeigen, worunter besonders Kinder und Frauen leiden. Zugleich boomen in Rumänien die protzigen Paläste neureicher Sippenchefs. Die Kinder in den Siedlungen erleben selten, dass man es mit Bildung im Leben zu etwas bringt. Denn die Prunk­villen und noblen Autos besitzen die Chefs ja nicht, weil sie Abitur und Studium absolviert haben.

DKM | Das bestärkt ein Vor-Urteil wie: «Die wollen doch nicht arbeiten, sondern nur betteln und stehlen.»
RB | Sicher gibt es Bettelei und Diebstahl. Ich schildere die Hintergründe in meinem Buch. Aber es ist ein giftiges Vorurteil, dass Zigeuner nicht arbeiten wollen! Man gibt ihnen keine Jobs. Das ist das Problem! Wie die Väter machen auch die Söhne die Erfahrung, dass sie bei der Vergabe von Arbeitsplätzen ganz hinten in der Schlange stehen. Viele traditionelle Handwerke, wie das Kupferschmieden, Ziegelbrennen oder Korbflechten, werden heute industriell erledigt. Auf der anderen Seite entspricht ihre Qualifikation oft nicht den Anforde­rungen profitabler Leistungsgesellschaften. Der Bildungshunger der Kinder ist jedoch riesig. Für die ältere Generation dagegen wird dieser Wissensdurst bisweilen zum Problem. Man stelle sich vor: Eine vierzehnjährige Tochter will den Realschulabschluss machen, aber der Vater kann nicht lesen und schreiben. Das kann wie eine Bedrohung wirken. Aufgeweckte Kinder stellen tradierte Hierarchien infrage. Aber das ist natürlich nicht bei allen Roma so.
Entscheidend ist für mich, dass man sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten wahrnimmt. Beide Seiten der Medaille. Unstrittig ist, dass die Zigeuner von den Mehrheitsgesellschaften sehr oft ausgegrenzt werden. Diese Diskriminierung hat wiederum über Generationen Verhaltensweisen bei ihnen hervorgebracht, welche die Ausgrenzung eher fördern, als sie abzubauen. Wenn man diese Erfahrungen aber tabuisiert, entsteht eine Kluft zwischen der realen Wahrnehmung und dem, was darüber gesagt werden darf. Dieser Graben wird durch das Sprechen im «politisch korrekten» Sinne immer breiter und verdeckt damit einen Konflikt – nämlich den, dass die Roma nicht immer bloß die Opfer sind, wie es die Funktionäre gern darstellen. Und aus diesem Verschweigen erwächst immer wieder das Potenzial für pauschale Diffamierungen und Vorurteile.

DKM | Aber nicht jeder hat die Möglichkeit wie Sie, eigene Erfahrungen zu sammeln. Wie kann man umgehen mit dem eigenen Eindruck, der vielleicht schwankt zwischen dem Urteil «Wer negative Tatsachen benennt, ist Rassist» – und «Die sind alle selbst schuld an ihrer Situation»?
RB | Wirkliche Offenheit und echtes Interesse sind die beste Möglichkeit, nicht in Vorurteilen und Schwarz-Weiß-Bewertungen zu verharren. Dazu muss man nicht in die Roma-Siedlungen reisen. Gespräche sind wichtig, in denen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, Erfahrungen und Informationen aufeinandertreffen und ihre Ansichten austauschen – ohne Angst vor Abwertung. Ein Ort für solche Dispute hat mich in meiner Jugend geprägt: die Stammtische in den Dorfkneipen: Alte und Junge, Linke und Rechte begegneten sich dort. Es ging lebhaft und provozierend zu, jeder vertrat seine Meinung, fand Bestätigung oder erntete Widerspruch, doch man zerstritt sich nicht, weil man einander schätzte. Heute greift man andere in anonymen Diskussionsforen an. Der Stammtisch wird diffamiert als Hort dumpfer Volksmeinungen. Wenn einem Politiker eine Meinung nicht passt, tut er sie als Stammtischgerede ab. So eine Dummheit! Die ur­demokratische Form der Meinungsbildung erfordert die Freiheit, auch mal ungeschützt Unpassendes sagen zu können, ohne geächtet zu werden. Der Trend heute, auch in den Medien, geht leider in die andere Richtung.

DKM | Das «politisch Korrekte» ist wohl gut gemeint. Man will niemanden wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe diffamieren – und lässt Negatives lieber weg. Und die eigene Angst vor dem Fremden, die Skepsis gegenüber anderen Werten bleibt bestehen.
RB | Genau das erscheint mir das Problematische. Zum einen für uns selbst. Wenn wir die eigenen Befürchtungen verleugnen, können sich Vorurteile umso hartnäckiger einnisten. Aber auch gegenüber der betroffenen Gruppe, wie gegenüber den Zigeunern: Durch politisch korrekte Vorurteile diskriminiert man die «Sinti und Roma» als eine Gruppe von Außenseitern, die permanent der Fürsorge bedarf. So begegnet man Menschen nicht auf Augenhöhe von Gleich zu Gleich. So behandelt man Menschen, denen man nichts zutraut. Gerade die gebildeten Meinungsführer der Roma kritisieren diese Entmündigung vehement. Sie wehren sich dagegen, sich und ihr Volk als ohnmächtige Opfer zu sehen, von der Gesellschaft daran gehindert, die Verantwortung für sich zu übernehmen.

DKM | Sie sind als Journalist weltweit gereist und verarbeiten Ihre Erfahrungen auch als Romanautor. Was ist eine prägende Erfahrung für Sie?
RB | Auf meinen Reisen habe ich viel Elend, aber noch mehr Überlebenswillen gesehen und Mitmenschlichkeit erfahren. Im reichen Deutschland dagegen fiel mir eine andere Art von Elend auf: eine geistige Verarmung. Wenn ich an einem Samstag durch die Innenstadt einer Großstadt gehe, strahlt mich in den glatten Gesichtern ja nicht das pralle Glück an. Ich habe nichts gegen lustvollen Konsum. Aber dass bei all diesem hohlen Materialismus verkümmert, was man früher einmal «Seelenleben» nannte, ist unübersehbar. Unsere christlichen Wurzeln verdorren, humanistische Ideen werden banalisiert. Jeder muss sich selbst erschaffen, jeder sein eigener Erfinder sein. Aber sind wir als Einzelne wirklich so stark, dass wir Werte für unser Zusammenleben allein aus uns selbst entwickeln können? Wer reist und Menschen begegnet, wer unterwegs ist, im realen wie auch im bildlichen Sinn, erfährt das Gegenteil.
Die Konzentration auf das, was wesentlich ist, zieht mich immer wieder in den Osten. Das ist eine elementar menschliche Erfahrung. Wenn mir die Menschen im lebenshungrigen Osten Europas «seelenvoller» erscheinen als im satten Westen, mögen manche das als Klischee abtun. Womöglich haben sie recht. Trotzdem fahre ich weiter in den Osten. Nicht um die Antwort auf die Frage zu finden, was die menschliche Seele ausmacht. Wohl aber, um die Frage danach wach und lebendig zu halten.