Manche Mitmenschen mögen wir, andere nicht. Manche scheinen uns bewundernswert, andere alltäglich. Wie wir. Aber da gibt es noch die Großen, die ein geschriebenes Werk hinterlassen haben, das wir teilweise gelesen haben oder auf das wir neugierig sind. Seit Jahrzehnten verbindet der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Rüdiger Safranski in seinen erfolgreichen Büchern die Werke großer Persönlichkeiten der Philosophie und Literatur mit ihrer Zeit, ihrem Gesamtwerk und ihrem Leben: Nietzsche und Heidegger, Schiller und Goethe. Und öffnet damit das Vergangene zu Fragen wie: «Was waren das für Menschen, was können sie uns heute sagen?» Rüdiger Safranski lässt uns lesend teilhaben an seiner quellengestützten Auseinandersetzung mit diesen Persönlichkeiten. Damit legt er eine Spur für uns – aber gehen müssen wir selbst, lesend und denkend (am besten, indem wir uns von seiner Begeisterung für die Originaltexte anstecken lassen). Die so errungene Fernsicht öffnet den Horizont, kann Orientierung geben bei etwas Aufregendem – dem eigenen Leben.
Doris Kleinau-Metzler | Herr Safranski, Sie sprechen in einem Interview davon, dass Regionen und Landschaften heute für uns wichtiger sind als Nationen. Aber bei der Fußball-WM in diesem Jahr war es doch anders, oder?
Rüdiger Safranski | Ja, bei der Fußball-Weltmeisterschaft war es anders. In dieser Hinsicht ist Fußball auch ein Segen, weil dieses Nationalgefühl, wenn es ins Nationalistische geht, sehr gefährlich werden kann, wie wir ja aus der Geschichte und Gegenwart wissen. Aber diese Fußball-Leidenschaft ist ein ungefährliches Spiel, und Schiller sagt ja: «Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.» Deswegen ist das Nationalgefühl im Spiel auch etwas sehr Menschliches, ein zivilisatorischer Fortschritt – ja, die Verwandlung von Ernstfällen in Spiel könnte man überhaupt als Zivilisation definieren. Zum Beispiel werden statt wirklicher Schlachten Redeschlachten im Parlament geführt, und wir sprechen sehr sinnig von den «Spielregeln» in Politik und Wirtschaft, die eingehalten werden sollten.
DKM | Sie Schreiben über Biografien großer Denker und was diese geprägt hat. Was hat Sie selbst dazu geführt?
RS | Wir hatten gute Lehrer an meiner Schule, die meine Lust an Literatur und Philosophie geweckt haben. Dazu kam meine jugendliche Begeisterung für den französischen Existenzialismus, Jean-Paul Sartre – dieses Denken, das den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Sich selbst in seiner Einzelheit zu verstehen und sich im Spiegel der anderen Einzelnen zu sehen, wurde für mich dadurch zu etwas Aufregendem. Dann wurde ich wie manche meiner Generation durch die Studentenbewegung der 68er-Jahre geprägt, durch diesen, so muss man heute sagen, Kollektivismus, der letztlich sehr konventionell war, auch wenn wir uns ganz exzentrisch fühlten. Bei einer zunächst theoretisch angelegten Arbeit über Romantik und Politik stieß ich auf E.T.A. Hoffmann. Er war ein abgründiger Romantiker (das war auch der Stil seiner Zeit um 1820), aber gleichzeitig auch ein sehr kluger, liberaler Jurist, ästhetisch «verrückt» und zugleich realitätstüchtig – ein Virtuose in der Kunst, zugleich in zwei Welten zu leben. So kam ich zum biografischen Schreiben, als ein Zurückfinden zum Einzelnen, ein Stück Befreiung aus dem Kollektivismus Ende der Siebzigerjahre.
DKM | Das eigenständige Denken war demnach auch für Ihre eigene Lebensgeschichte entscheidend?
RS | Ja, denken, was man auch wirklich selbst denkt und nicht nur nachredet – und bis es klar wird, so klar, wie es möglich ist. Durch meine Schriftsteller-Existenz außerhalb der Universität muss ich keine formalen Ansprüche erfüllen, und so spielt für mich in der Philosophie und Literatur auch nur das eine Rolle, was mich irgendwie existenziell berührt. Das führt mich zu einem Arbeitsprozess, bei dem ich manche Gedanken, zum Beispiel Heideggers, bis zu einer Deutlichkeit bringen kann, die ich bei den akademischen Darstellungen in der Regel vermisse, eine Deutlichkeit auch, vor der Heidegger selbst bisweilen zurückscheut. Das ergibt sich aber nur gleichsam im Dialog mit den jeweiligen Menschen und Werken, über die ich schreibe.
DKM | Denken, das tun wir täglich – was ist wesentlich für dieses Denken, das Sie meinen?
RS | Denken ist zum Glück ein alltägliches Vorkommnis und meist eine Mischung aus Nachdenken, Fantasieren und Sich-etwas-Vorstellen. Das Großartige ist diese zweite Ebene über dem Gewohnten, wenn man sich zurücklehnt, reflektiert und sich beispielsweise fragt: Was war das eigentlich, was mich berührt hat? Was bedeutet das genau? Um in dieser offenen Art, die sich aus unserem Leben selbst ergibt, nachzudenken, muss ich innehalten, brauche ich eine gewisse Distanz. Es ist eine Verlangsamung. Man kann dieses Denken üben, mit dem Freude und eine Steigerung der Lebendigkeit verbunden ist, je mehr wir damit vertraut werden.
Am schönsten ist ein lebensnahes Denken, das verbunden ist mit der Gestaltung des Alltags. Das ist bei Goethe in besonderem Maße erlebbar. Er war kein Mensch, der sich überschießenden Spekulationen hingab, sondern hatte eine starke Erdung und Wirklichkeitsnähe, lebensbegleitend, nicht lebensflüchtig. Goethe war immer wieder ein Lernender und mit erheblicher Lust ein sich Verändernder. Als in den späteren Lebensjahren ein Gesprächspartner ihn einmal darauf hinwies, dass er in einer bestimmten Angelegenheit früher anderer Meinung war, erwiderte er unwirsch: «Man wird nicht achtzig, um immer dasselbe zu denken.»
DKM | Aber wir suchen in Aussagen großer Persönlichkeiten wie Goethe oft nach gültigen Wahrheiten. Auch Sie fragen in einem Ihrer Bücher mit dem Titel «Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?» danach.
RS | In diesem Buch geht es mir um die Wahrheit, die unserem Leben Sinn gibt, denn wir sind geistige Wesen und insofern auf der Suche nach einer geistigen Heimat, die uns lebendig hält, die unserem Leben eine Orientierung gibt. Davon lebt die Religion, davon leben überhaupt unsere Kulturen, sofern sie an der Sinngebung mitwirken. Es gibt für mich auch nicht das eine Universum der Wahrheit, sondern ein Pluriversum, das heißt verschiedene Sichtweisen. Und es macht mir großes Vergnügen, alles aus verschiedenen Perspektiven anzusehen – sei es aus der Schopenhauers, Nietzsches oder Goethes. Ich muss mich doch nicht entscheiden, die Beweglichkeit ist ein großartiges Angebot. Die eigene, frei denkende Suchbewegung, immer wieder neu, ist entscheidend.
Ich warne vor der Gefahr, sich in eine bestimmte Sichtweise einzumauern. Das kann man auf einem sehr hohen Niveau. Wir kennen aus der Geschichte und Gegenwart auch die Gefahr totalitärer Wahrheiten, die sich verhängnisvoll und bis hin zu Fanatismus und Gewalt steigern, wo man Andersdenkende bekämpft, weil man an seinem festen Weltbild festhält, gegen alle Zweifel und Zweifler. Die andere Seite des Extrems ist nach meinem Eindruck, dass manche Leute heute einfach zufrieden sind, wenn sie Konsumenten sind; sie brauchen keine Wahrheiten, suchen keinen Sinn. Früher sagte man Nihilismus dazu.
DKM | Damit sprechen Sie von unserer Zeit, die Sie eine Umbruchzeit nennen. Was meinen Sie damit?
RS | Durch die digitale Revolution erleben wir eine tief greifende Veränderung unserer gesamten Lebenssituation. Allein die Tatsache, dass man fast ständig in Echtzeit in das, was weltweit geschieht, hineingezogen wird, hat es menschheitsgeschichtlich noch nie gegeben: Bis vor 100 Jahren lebte jede Region wie unter ihrer eigenen Zeitglocke, und was in raumfernen Orten vor sich ging, war, wenn man es erfuhr, immer schon Vergangenheit. Jetzt erleben wir zum ersten Mal elektronisch vermittelt, sinnlich nachvollziehbar den ganzen Globus – werden Zeugen von Dingen, die wir dennoch nicht beeinflussen können, sehen auf dem Bildschirm Gewalt, Elend. Positiv ist, dass dadurch Menschenrechtsverletzungen vor aller Welt auch als solche angeprangert werden.
Aber diese riesige soziale Reizmenge kann nicht mehr angemessen von uns verarbeitet werden, denn die Wahrnehmungsprothesen wie Fernsehen und Internet vergrößern zwar unsere Welt, aber unser realer Handlungsteil bleibt gleich. Entsprechend haben Stresskrankheiten zugenommen. Nach meinem Eindruck schwankt der Zustand von Zeitgenossen zwischen Abgebrühtheit oder grundsätzlicher Panik, einem nervösen Lebensgefühl. Heute rauscht viel durch uns hindurch – wenn wir es zulassen.
Wir brauchen deshalb eine Art kulturelles Immunsystem; Goethe nannte es «so viel aufnehmen, wie man sich anverwandeln kann». Dieser schöne Ausdruck «anverwandeln» heißt ja, dass man etwas tut, nicht nur passiv konsumiert, sondern sich etwas erarbeitet, es für sich selbst verwandelt. Goethe hat das auf vielen Gebieten immer wieder getan, von seiner Lebensplanung, einzelnen naturwissenschaftlichen Fragen bis zu literarischen Themen (wie dem «Faust»). Für ihn war ein Gleichgewicht zwischen seinem Lebensalltag und dem, was an Anforderungen an ihn gestellt war, ob aus seinem Talent, der Literatur oder seinem Umfeld, grundlegend. Weil ihm die Balance gelang, spreche ich in meinem Buch über ihn auch vom «Kunstwerk des Lebens».
DKM | Was bedeutet Ihnen Ihre Arbeit an den Biografien persönlich?
RS | Bei den Biografien, die ich geschrieben habe, ist die jeweilige Figur für mich auch ein Experiment, das ich mit mir selbst anstelle – ein Prozess der Selbsterkenntnis. Eindringlich schreibend und auch lesend ist man zudem ein Stück weit ein anderer, in einem anderen Leben; es gehört zu unseren großartigen geistigen Möglichkeiten, in Gedanken und in der Fantasie im Grunde mehrere Leben auszuprobieren. Obwohl ich von meinen Figuren immer etwas gelernt habe, kann ich niemandem eine Gebrauchsanweisung dafür geben. Versucht man es, kommen nur Banalitäten dabei heraus. Das bloße Verwertungsinteresse und die Suche nach kurzen Rezepten blockieren eher den lebendigen Prozess, der zu jedem Lesen, jedem Lernen, das einen selbst voranbringt, gehört.
In diesem Sinne arbeite ich weiter; gerade schreibe ich an einem Buch über die Zeit. Die mit Zeiterfahrung zusammenhängenden Fragen stehen auch im Mittelpunkt der von mir initiierten und geleiteten diesjährigen Badenweiler Literaturtage vom 16. bis 19. Oktober 2014. «Das Spiel mit der Zeit» lautet das Thema; es geht also um das Betriebsgeheimnis der Literatur.