Immer wieder sehen und lesen wir von Katastrophen, die Tausende Menschen betreffen, seien es Erdbeben (wie jüngst in Nepal), Epidemien (wie Ebola) oder Kriege und Gewaltexzesse, welche die Zivilbevölkerung zur Flucht zwingen (wie in Syrien und Nigeria). Unsere Lebenssituation in Mitteleuropa ist sicher, wir sind weit davon entfernt – aber unser Mitgefühl mit diesen Menschen, die unschuldig in größte Not geraten sind und leiden, ist angesprochen. Internationale Hilfe ist notwendig, und im Zusammenhang damit taucht immer wieder die Organisation «Ärzte ohne Grenzen» auf. Ihre Mitarbeiter sind oft die Ersten in den Katastrophengebieten; sie kümmern sich um das Nötigste vor Ort und sorgen für die medizinische Versorgung. Warum begibt sich jemand wie die Ärztin Dr. med. Jantina Mandelkow immer wieder in Krisengebiete, was erlebt sie dabei?
Doris Kleinau-Metzler | Frau Mandelkow, Sie sind Ärztin, Chirurgin, und waren für Ärzte ohne Grenzen schon mehrfach in verschiedenen Ländern. Wie sind Sie dazu gekommen?
Jantina Mandelkow | Schon während meiner Schulzeit habe ich mich mit Menschenrechtsfragen beschäftigt, angeregt durch mein familiäres Umfeld, denn meine Großeltern haben sich für Amnesty International engagiert, und meine Eltern sind geprägt durch den Vietnamkrieg und die Zeit der lateinamerikanischen Putsche in den siebziger Jahren, als viele Chilenen in Hamburg Zuflucht suchten. Wir sind gereist, haben andere Länder und ihre Kultur kennengelernt, und als junge Erwachsene war ich in Nicaragua, Kuba und Kenia und habe dort teilweise Praktika gemacht. In einem Entwicklungshilfeprojekt habe ich mitbekommen, wie ein deutscher Arzt eine Neugeborenen-Station aufbaute, weil viele Kinder in diesem Land an einfachen Infektionen starben, auch die mit normalem Geburtsgewicht. Deshalb wollte ich etwas Praktisches für Menschen in Not tun und habe Medizin studiert. Die Medizin bietet eine handwerkliche Grundlage, die konkrete Hilfe für Menschen ermöglicht – und medizinische Versorgung und körperliche Unversehrtheit ist ein grundlegendes Menschenrecht, das es zu verwirklichen gilt. Jenseits der Fragen nach der medizinischen Versorgung hält sich Ärzte ohne Grenzen als neutrale humanitäre Organisation aus der Politik aber heraus.
DKM | Reinhold Beckmann berichtete in einer ARD-Sendung mit Tränen in den Augen über das Grauen, die Erfahrungen der Menschen in den Flüchtlingslagern im Nordirak. Wie ist das für Sie?
JM | Ja, ich denke oft, wie schwierig es für Journalisten, auch für Zuschauer zu Hause ist, das Gesehene zu verarbeiten. Es ist wahrscheinlich einfacher, wenn man direkt etwas Lebensnotwendiges für die Menschen tun kann. Wenn man helfen kann. Dabei ist der Beitrag von Journalisten sehr wichtig, denn es hilft letztlich den Menschen, wenn durch die Information ihre katastrophale Situation öffentlich wird und humanitäre Hilfe anspornt. Ich habe während der Ausbildung medizinische Praktika in Afrika gemacht, die man als «abenteuerlich» aus unserer westlichen Perspektive bezeichnen könnte. Manche Praktikanten haben entschieden, dass sie so in Zukunft nicht arbeiten wollen. Mich hat es eher bestärkt – es ist einfach individuell unterschiedlich, was man ertragen kann, auch rein seelisch. In der Medizin ist es allgemein so – auch in Deutschland –, dass man nicht immer allen schwerkranken Menschen helfen kann, was emotional von jedem Arzt bewältigt werden muss. Aber bei der Arbeit in Katastrophengebieten erlebt man, dass es den Menschen dort sehr, sehr schlecht geht aufgrund der allgemeinen Unterversorgung in Bezug auf Ernährung, Hygiene und Gesundheitsfürsorge (was bei uns gewährleistet ist). Mit dieser Frustration muss man umgehen lernen – auch, indem man ganz konkret hilft. Das macht es einfacher.
DKM | Wenn Sie nach so einem Einsatz zurückkommen in unsere Wohlstandsgesellschaft – wie erleben Sie das?
JM | Das Schönste, wenn man nach Hause kommt, ist zunächst fließendes Wasser aus der Leitung, das man trinken kann, ohne dass man Chlor hinzufügen muss oder Angst haben muss, das man davon krank wird. Zu wissen, dass es woanders anders ist, ist für das eigene Lebensgefühl wichtig – dieser Luxus, dass warmes Wasser zum Duschen einfach immer da ist, dass Dinge des Alltags funktionieren, dass es eine allgemeine Gesundheitsversorgung gibt usw. Man ist am Anfang aber auch etwas schockiert, wenn man mitbekommt, welche Kleinigkeiten bei alltäglichen Problemen Menschen hier negativ stimmen können; auch der Überfluss bei uns, Kommerz und Luxus sind manchmal schwer zu ertragen. Mir hat es immer gutgetan, möglichst bald nach meiner Rückkehr von einem Projekt für Ärzte ohne Grenzen wieder in einem Krankenhaus zu arbeiten. Auch wenn ein Patient hier, verglichen mit Problemen an meinem Einsatzort, vielleicht ein gesundheitliches «Luxusproblem» hat, bewerte ich das nicht. Er ist einfach auch ein Mensch mit Angst und Schmerzen, und ich kann als Ärztin damit umgehen und versuchen, ihm zu helfen.
DKM | Wie sind die Rahmenbedingungen von Ärzte ohne Grenzen?
JM | Grundlage ist, dass unsere Organisation durch die privaten Spender unabhängig und relativ frei entscheiden kann, welche Hilfe sinnvoll ist für die jeweilige Bevölkerung. In Sierra Leone, Liberia und Guinea etwa ist die Gefahr der Ebola-Epidemie noch nicht gebannt, gleichzeitig brauchen die betroffenen Länder viel Hilfe, um das zusammengebrochene Gesundheitssystem zu stärken, etwa um schwere Malaria-Fälle, die während der Regenzeit gehäuft auftreten, zu verhindern. Die Nähe zur Bevölkerung ist wesentlich für uns, ebenso die Nähe zu unseren einheimischen Mitarbeitern, die auch wegen ihres Wissens um die besonderen Bedingungen vor Ort unverzichtbar für unsere Arbeit sind.
Ärzte ohne Grenzen hat inzwischen mehr als 20 Landessektionen, die in fünf operationellen Zentren organisiert sind und in mehr als 60 Ländern medizinische Hilfe leisten. Grundsätzlich arbeiten wir in international gemischten Teams. Unsere wichtigsten Grundsätze sind Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Neutralität – das sind wesentliche Prinzipien, um auch in hoch politischen bewaffneten Konflikten Zugang zu den Menschen zu bekommen, ohne dass wir selbst gefährdet werden. Im letzten Jahr wurden etwa 300 deutsche Mitarbeiter in verschiedenen Funktionen ins Ausland geschickt, davon sind 25 bis 30 Prozent Ärzte, dann Krankenschwestern und andere medizinische Berufe (wie Laborassistenten) sowie Logistiker, Wasser- und Sanitärspezialisten und Projektleiter – um überhaupt die Grundlagen für eine medizinische Hilfe zu schaffen. In der Regel dauern die Arbeitseinsätze für Ärzte ohne Grenzen neun Monate, sie können je nach Art des Einsatzes aber auch länger oder erheblich kürzer sein (wie der Einsatz in Ebola-Gebieten in westafrikanischen Ländern, der körperlich und seelisch extrem anstrengend ist).
DKM | Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
JM | Ich bin seit 2007 in verschiedenen Kontexten mit Ärzte ohne Grenzen im Einsatz, bei Notfalleinsätzen, Epidemien oder in einem Krankenhaus. Zwischen den verschiedenen Einsätzen habe ich immer wieder eine Anstellung in Deutschland gesucht und meine Facharztausbildung gemacht. Letztes Jahr war ich medizinische Koordinatorin in einer regionalen Hauptstadt im Kongo. Verschiedene Akteure bekriegen sich dort seit Jahren, und die Bevölkerung leidet immens. Immer noch sterben viele Kinder an Malaria oder verhinderbaren Krankheiten, weil Impfstoffe und die einfache Grundversorgung fehlen. Bei meiner Arbeit ging es um die Regelung der Grundversorgung, die Qualität der medizinischen Versorgung und die Abstimmung mit den anderen Akteuren vor Ort, die sich um die Bevölkerung kümmern (wie Gesundheitsministerium und andere humanitäre Organisationen).
DKM | Immer wieder ist von Angriffen auf Krankenhäuser und Hilfeteams zu lesen. Wie kommt es dazu?
JM | Wir haben jeweils unsere eigenen Sicherheitsexperten vor Ort. Eine absolute Garantie, dass sich die bewaffneten Gruppen an ihre Zusagen zur Sicherheit unserer Mitarbeiter halten, hat man nie, aber man kann mit den Konfliktparteien verhandeln, um Akzeptanz für unsere Arbeit zu erzeugen. Aber leider ist es in den letzten Jahren häufiger geworden, dass neutrale medizinische Einrichtungen, selbst wenn sie deutlich gekennzeichnet sind, plötzlich gezielt angegriffen werden. Eigentlich besteht für sie eine völkerrechtliche Konvention, dass sie nicht angegriffen werden. Der Grund für diesen ausdrücklichen Schutz liegt darin, dass man sehr vielen Menschen schaden kann und die Bevölkerung einschüchtert, wenn man einen Arzt umbringt oder ein Krankenhaus zerstört – oder die einheimischen Mitarbeiter von Gesundheitseinrichtungen verfolgt, wie es in Syrien passiert. Das macht unsere Arbeit viel schwieriger. Es ist leider heutzutage auch so, dass militärische Einsätze, die zur Lösung von Konflikten führen sollen, häufig als «humanitär» bezeichnet werden. Ein humanitärer Einsatz ist aber grundsätzlich etwas anderes als ein militärischer Einsatz! Das kann zu einer Verwirrung führen, wenn eine Armee – wie in Afghanistan – sagt: «Wir machen humanitäre Hilfe», es aber ein politischer und militärischer Einsatz mit bestimmten Interessen ist. Die Bevölkerung kann die rein humanitäre und medizinische Hilfe von neutralen Organisationen dann kaum mehr davon unterscheiden – vor allem auch nicht die Rebellen und Kriegsparteien. Dadurch werden Mitarbeiter von humanitären Organisationen und die hilfsbedürftige Zivilbevölkerung gefährdet.
DKM | Was ist für Sie wesentlich neben der konkreten medizinischen Notfallhilfe?
JM | Durch die medizinische und humanitäre Hilfe entsteht eine besondere Nähe zu den Menschen. Wir werden Zeugen ihrer Not – und können so auch ein Sprachrohr für vernachlässigte Menschen in der Welt werden, wenn wir wieder zurückkommen und darüber berichten. Ich erinnere mich auch an beeindruckende Menschen, die mir bei meiner Arbeit in Krisengebieten begegnet sind, die oft so viel Leid mitgemacht haben und doch eine große Stärke zeigten und wieder Lebensfreude ausstrahlten. Das gibt mir selbst Energie, Lebensenergie.