Unser Alltag ist geprägt von Arbeit und Familie, Kunst ist meist kein Thema. Auch der Direktor des «Museum Ludwig» in Köln, Dr. Yilmaz Dziewior, kommt aus einer Familie, in der Kunst oder Museumsbesuche keine Rolle spielten. Doch als Schüler wurde seine Neugier für zeitgenössische Kunst entfacht. Nach dem Studium der Kunstgeschichte und der Tätigkeit als freier Kurator wurde er Direktor des «Kunstvereins» in Hamburg und ab 2009 des «Kunsthauses» Bregenz, bevor er nun seit Februar 2015 in Köln das «Museum Ludwig» (für die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts) leitet. Er will das Museum für neue Kreise öffnen, nicht zuletzt für Familien und Kinder – und ist offen für alle Fragen, wie zum Beispiel: «Wie kann ich ein abstraktes Gemälde eigentlich ‹lesen› lernen?» Oder: «Warum kosten manche Kunstwerke mehrere Millionen Euro?»
Doris Kleinau-Metzler | Herr Dziewior, wie hat sich Ihr Interesse an moderner Kunst entwickelt?
Yilmaz Dziewior | Mein Vater, der Türke ist, und meine Mutter, deren Familie aus Polen stammt, interessieren sich bis heute nicht für Kunst, aber ich hatte eine sehr gute Kunstlehrerin in der Oberstufe des Gymnasiums, die uns Schüler an die moderne Kunst herangeführt hat. Ich habe auch nicht verstanden, warum das Kunst ist, wenn wir beispielsweise über die Nachkriegskunst von Joseph Beuys gesprochen haben, seine Installationen, Fettecken usw. Doch während meine Mitschüler sich darüber lustig gemacht haben, fand ich das interessant; irgendetwas daran hat mich weiter beschäftigt … In der 13. Klasse wusste ich dann, dass ich Kunstgeschichte studieren wollte. Während des Studiums habe ich gemeinsam mit anderen in einer Gruppe gearbeitet, die Ausstellungen mit zeitgenössischen unbekannten Künstlern vorbereitete. Dabei habe ich gelernt, wie man die Werke am besten präsentiert und wie man die Öffentlichkeit auf Ausstellungen aufmerksam macht. Vor allem war und ist der Umgang mit den Künstlern für mich faszinierend. Bis heute finde ich es spannend, neuen Menschen zu begegnen – das ist ein wichtiger Motor meiner Arbeit.
DKM | Künstler – was sind das für Menschen?
YD | Das Schöne an der Kunst ist für mich, dass sie keine eindeutigen Antworten gibt. Wer ist Künstler? Es gibt Künstler wie Pablo Picasso oder Andy Warhol, die relativ jung Anerkennung gefunden haben und schon zu ihren Lebzeiten etabliert waren. Aber es gibt nicht dieses eine Modell, sondern Künstlerinnen und Künstler mit unterschiedlichsten Künstlerlaufbahnen – und vor allem unterschiedlichen Herangehensweisen, wie sie sich in ihrer Kunst ausdrücken wollen. Mit ihren verschiedenen Temperamenten, Charakteren und Themen. Das reicht von eher wild-emotional arbeitenden Künstlern bis zu intellektuell oder fast bürokratisch vorgehenden Künstlern (wie On Kawara, der systematisch nach demselben Schema ab 1966 über 2000 Bilder malte, Date Paintings). Das Spektrum ist riesig – und das macht die Arbeit so bereichernd für mich, denn der Kontakt mit Künstlern ist immer wieder ein Erlebnis.
Im Kunstfeld nehmen meist eher unkonventionelle Personen teil, die häufig einen sehr eigenen Zugang haben, wie sie die Welt sehen und sich damit auseinandersetzen. Beispielweise habe ich vor Kurzem mit Dahn Vó übers Internet geskyped, einem vietnamesischen Künstler, dessen Werke wir im Sommer im Museum Ludwig ausstellen. Er hat mir den Titel seiner Ausstellung geschickt. Als ich ihn las, verstand ich überhaupt nichts. Lange habe ich die Buchstaben angeschaut, dachte dann, es sei Vietnamesisch, habe es in eine Suchmaschine eingegeben, was alles nichts ergab – bis ich nach zehn Minuten sah: Wenn ich den Titel rückwärts lese, bedeutet es: «it is warm in the body». Dass ich das selbst erst nach längerer Zeit herausgefunden habe, hat mich innerlich viel stärker beteiligt, mich gefesselt, als wenn es mir jemand sofort gesagt hätte. Ähnlich kann auch Kunst auf den Betrachter wirken – sich langsam erschließend, unbewusst. Und doch auf das Bewusstsein zurückwirken.
DKM | Kann man als Laie, als Zufallsbesucher, der unsicher vor einem zeitgenössischen Kunstwerk steht – das ihn vielleicht befremdet –, so ein abstraktes Bild oder eine Installation irgendwie «lesen», verstehen lernen und etwas dabei erleben?
YD | Ja, sicher. Grundvoraussetzung ist, dass man eine Offenheit hat, sich auf das Dargestellte einzulassen – ohne zu denken: Ich muss jetzt etwas für meine Bildung tun oder möglichst viele Kunstwerke in einer Stunde anschauen. Die erste Ebene ist, dass ich genau hinschaue, was ich dort sehe. Ich sehe vielleicht so etwas wie eine Komposition, manche Farben und Formen sprechen mich an, andere rufen vielleicht widersprüchliche Empfindungen oder Abwehr in mir hervor. Genauso wichtig wie die Ebene der Farben und Formen ist das Thema der Arbeit. Häufig geht es um Inhalte, die uns alle berühren, wie zwischenmenschliche Beziehungen, Identität, Glaube. Wenn der Inhalt mich anspricht und eine Form gefunden wurde, die über eine inhaltliche Aussage hinausgeht, dann weckt es mein weiteres Interesse. Beispielsweise bei der amerikanischen Malerin Joan Mitchell, von der das Museum Ludwig ab November 2015 Gemälde ausstellen wird. Die Bilder sind sehr unterschiedlich, aber es gibt Bilder, da würden Sie wahrscheinlich auf die Frage, was Sie sehen, antworten: «Linien und Farbflecken». Ja, es sind keine Figurationen unmittelbar zu erkennen, aber wenn Sie sich auf die Betrachtung einlassen, auf die Art, wie die Pinselführung ist, welche Farben gegenübergestellt wurden, wie überhaupt mit Farbe als Material umgegangen wurde (manchmal dickteigig aufgetragen, manchmal mit krustiger Oberfläche, dann wieder glasierend und fast durchsichtig), dann merken Sie, dass durch die Art des Farbauftrags von der Komposition eine Stimmung erzeugt wird. Sie ist vielleicht ähnlich der, die Sie erleben, wenn Sie durch ein sonnendurchflutetes reifes Kornfeld gehen. Die Sinneseindrücke des Windes, des Lichtes auf dem Feld erleben Sie jetzt, wenn Sie auf das Bild schauen – ohne dass Sie es sich genau erklären können, wie das eigentlich passiert. Es ist nicht dasselbe, aber das Bild wirkt auf uns, wenn wir uns offen auf es einlassen. Sich auf eine andere Sprache als die gewohnte einzulassen, mit anderen Formen, wie jemand sich äußert, ist aus meiner Sicht sehr bereichernd.
DKM | In einem Gespräch in der Sendung «Zwischentöne» des Deutschlandfunks sprachen Sie im Zusammenhang mit Kunst davon, dass Ihnen im Moment zur Muße und Kontemplation wenig Zeit bleibe. Was meinen Sie genau damit?
YD | Muße bedeutet für mich eine Zeit des Rückzugs aus dem Alltäglichen. Der Arbeitsalltag eines Museumsdirektors sieht so aus, dass man von einem Treffen zum nächsten geht, sich darauf vorbereitet usw. Es ist sehr interessant, mit den unterschiedlichen Personen zu tun zu haben, aus der Verwaltung, mit potenziellen Sponsoren, mit Kunstsammlern, mit Künstlern und natürlich den Kolleginnen und Kollegen hier im Haus. Aber wenn es darum geht zu überlegen, was die nächsten Ausstellungsprojekte sein könnten, oder einen Text für den Kunstkatalog zu schreiben, dafür brauche ich Muße. Die nehme ich mir in der Regel am Wochenende – oder manchmal kommen morgens beim Frühstück gute Ideen. Auch zur Kontemplation, die nicht zweckgebunden ist, sondern bedeutet, sich ruhig in etwas zu versenken und intensiv damit auseinanderzusetzen, ist Muße notwendig. Gerade dieses Nicht-Zweckgebundene ist das, was mit der Kunst einhergeht – und Offenheit voraussetzt und Entwicklung ermöglicht.
Auch ein Museumsbesuch beinhaltet dieses Element der Muße, denn es ist ein Herausziehen aus dem Alltag, indem man einen Raum betritt, der gezielt eine andere Art des Wahrnehmens ermöglicht. Unser Alltag ist in der Regel von vielen Sinneseindrücken und einem hohen Tempo geprägt (durch die Medien, die Arbeits- und Konsumwelt). Das Museum kann entschleunigen. Gleichzeitig werde ich auf einer anderen Ebene als der alltäglichen im Ausstellungsraum zu Formen und Themen hingezogen, die dennoch mit meinem Alltag, meinem Leben zu tun haben. Ein Beispiel ist die Pop-Art der 60er-, 70er-Jahre, die thematisiert, wie sich unsere Gesellschaft durch die Massenproduktion verändert hat, der Konsum alles prägt. Daraus ergeben sich ganz ursprüngliche Fragen, die uns alle berühren, wie beispielsweise: «Was ist eine Beziehung im Zeitalter des Konsums, der Massenmedien?» Aber es gibt kein «Muss» in der Kunst – ich empfinde es als eine große Befreiung, das alles auch ganz anders sein kann.
DKM | Warum kosten manche Kunstwerke Millionen Euro?
YD | Der Kunstmarkt ist aus meiner Sicht mit äußerster Vorsicht zu betrachten, gerade wenn es um Qualität geht, die Bestand hat. Die hohen Preise geben nicht unbedingt die Bedeutung oder Qualität eines Werkes wieder, sondern richten sich rein nach Angebot und Nachfrage. Das ist für einen Museumsleiter eigentlich nicht interessant. Aber durch hohe Versteigerungserlöse steigen die Versicherungswerte für Wechselausstellungen mit Werken von hochdotierten Künstlern, und diese Ausstellungen werden dann in den Medien und vom Publikum mit mehr Aufmerksamkeit bedacht.
DKM | Was sind Ihre Pläne?
YD | Mein Anliegen ist, unseren umfangreichen Sammlungsbestand mit den Kuratorinnen und Kuratoren unseres Hauses noch stärker ins Bewusstsein zu rufen; dazu gehört die Pop-Art, die russische Avantgarde, das große Picasso-Konvolut, die große Fotografie-Sammlung und auch Kunst aus Afrika, aus Lateinamerika und Asien, die Peter und Irene Ludwig schon sehr früh gesammelt haben. Weiter ist mir wichtig, bildungsferne Schichten verstärkt anzusprechen (zum Beispiel mit unserem Art-LAB, einem Raum für Familien mitten im Museum); wir arbeiten auch viel mit Schulen zusammen. Köln ist eine sehr heterogene Stadt, mit einem hohen Arbeiter- und Migrationsanteil, aber auch einem sehr engagierten Bürgertum, und bietet dadurch viele Möglichkeiten für die zeitgenössische Kunst.