Nizaqete Bislimi vertritt Menschen vor Gericht, die ihre Heimat verloren haben und um eine sichere Bleibe in Deutschland kämpfen. Die Rechtsanwältin kennt die Situation ihrer Mandanten genau, denn als Jugendliche war sie selbst auf der Flucht. Dreizehn Jahre lang musste sie auf eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland warten. In dieser Zeit quälender Ungewissheit hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben und sich mit präziser Fantasie ein besseres Leben erträumt. Mit viel Kraft, Ausdauer und der Hilfe wohlwollender Menschen hat sie es geschafft, diese Träume zu verwirklichen. Die junge engagierte Juristin weiß von einer ungewöhnlichen Karriere, von der Kraft positiver Gedanken und von Balkansonne auf der Haut zu erzählen. In ihrem Buch «Durch die Wand. Von der Asylbewerberin zur Rechtsanwältin» (erschienen bei DuMont Buchverlag) gewährt sie einen bewegenden Einblick in ihr Leben – und vertritt in der aktuellen Flüchtlingsdebatte eine dezidierte Meinung.
Christian Hillengaß | Frau Bislimi, Sie sind mit Ihren Eltern und vier Geschwistern im Kosovo aufgewachsen. Erinnern Sie sich gerne an diese Zeit?
Nizaqete Bislimi | Ja, ich hatte eine sehr schöne Kindheit, habe mich geliebt gefühlt und denke gerne daran zurück. Ich kann manchmal den Sonnenschein wirklich noch spüren, wenn ich an die Sommer dort zurückdenke. Es gibt Momente, vor allem jene mit meiner Oma, von denen ich alles noch sehr klar vor Augen habe, die Besuche meiner Tanten und Onkel, mein erster Schultag … Das ist alles ganz präsent, ganz da. Bis zu den Monaten, als es anfing, sich zuzuspitzen, als wir gemerkt haben: Es passiert etwas, und zwar nichts Gutes.
CH | Das drohende Übergreifen des Krieges?
NB | In Kroatien und in Bosnien war ja schon seit 1991/92 Krieg. Bei uns wurden die Spannungen dann auch immer deutlicher – man konnte sie förmlich mit den Händen greifen, hat
die Bilder von Krieg und Auseinandersetzung im Fernsehen gesehen. Viele Schulen wurden geschlossen, weil die Lehrer sich nicht zum serbischen Regime bekannt haben. Daher sind von anderen Schulen Schüler zu uns gekommen oder es wurde Privatunterricht organisiert. Dadurch war auch in der Schule und für uns Kinder deutlich zu spüren, dass etwas in Bewegung ist. Und die Panzer, Soldaten und Einschusslöcher haben wir irgendwann überall gesehen.
CH | Waren Sie im Speziellen bedroht, weil Sie einer Minderheit angehörten?
NB | Mein Vater gehört der Hashkali-Minderheit, meine Mutter der Roma-Minderheit an. Meine Eltern haben damals gespürt, dass es nicht gut enden wird. In einem komplizierten ethnischen Gefüge geraten Minderheiten im Konfliktfall als Erstes zwischen die Fronten. So kam der Entschluss, das Land zu verlassen, was uns absolut nicht leicht fiel. Beim dritten Anlauf hat dann die Flucht geklappt.
CH | So gelangten Sie als Vierzehnjährige nach Deutschland. Hier waren Sie von den Behörden nur geduldet, Sie mussten also jederzeit damit rechnen, abgeschoben zu werden?
NB | Ja. Das hing wie ein Damoklesschwert über mir, über uns –
viele Jahre lang. Die Duldung wurde meist immer nur um drei Monate verlängert. Diese Unsicherheit ist ganz schwierig. Duldung ist ein Status, der ganz viel anrichtet. Meine Mutter war zum Beispiel etwa in meinem Alter jetzt, als wir hergekommen sind – mein Vater kam erst etwas später nach –, und ich konnte sehen, wie es ihr immer schlechter und schlechter ging. Das erfahre ich auch von ganz vielen meiner Mandanten: Sie kommen hierher und werden hier erst krank, denn diese Situation, diese Ungewissheit macht krank. Und es gehen so viele Potenziale dadurch verloren, dass die Menschen über einen längeren Zeitraum in diesem unsicheren Status bleiben und jederzeit damit rechnen müssen, abgeschoben zu werden. Es ist schwierig, ein Arbeitsverhältnis einzugehen, weil das auf den Arbeitgeber natürlich abschreckend wirkt. Duldung ist keine gute Lösung – es ist gar keine Lösung!
CH | Ist es Ihnen trotzdem irgendwie gelungen, an die Zukunft zu glauben, sich Ziele zu erträumen?
NB | Ich habe mir meine Ziele richtig visualisiert, was anfangs möglicherweise einfach eine Form der Flucht aus der gegebenen Situation war. Ich bin auf einem Hof großgeworden: im Frühling frisches Grün, im Sommer die Früchte und das Obst! Und dann, in Deutschland, in den Unterkünften war auf einmal alles so beengt, so grau. Ich dachte: Wie sollst du hier leben? Diese Baracken! Diese Enge! Also habe ich angefangen, positive Zukunftsbilder vor mich hinzustellen. Das Gute ist: Man hat es ja vollkommen in der Hand, man kann den Ausgang dabei selbst bestimmen. Später, in den realen Situationen holt man sich dann die Stärke aus der Vision. Ich glaube, dass das ganz hilfreich ist – zumindest war es das für mich. Vor allem in Momenten, die einem aussichtslos erscheinen.
CH | In der Tat klingt es bemerkenswert, was Sie in ihrem Buch schildern: Unter all den schwierigen Umständen des Asyls, der bloßen Duldung, haben Sie in kürzester Zeit Deutsch gelernt und das Abitur gemacht. Danach haben Sie sich an ein Jurastudium gewagt und erfolgreich studiert ...
NB | Dazu gehört auch – ich sage es immer wieder und ich werde nie aufhören, es zu sagen –, dass ich wirklich Glück hatte, Menschen begegnet zu sein, die mir, die uns gegenüber aufgeschlossen, freundlich, höflich und offen waren, sodass ich mich persönlich wohlfühlte. Und es gab Menschen, die erkannt haben: Da ist ein gewisses Potenzial, das man fördern sollte. Es war wie eine Kette, die sich da ergeben hat – eine Verbindungsgeschichte aus mehreren Stationen mit verschiedenen Menschen. Einige haben mich Jahrzehnte begleitet. Es ist durchaus möglich, dass, wenn irgendein glückliches Zusammentreffen nicht stattgefunden hätte, es vielleicht in eine andere Richtung gegangen wäre. Ein Mensch kann selbst viel tun, indem er sich ein Ziel setzt oder Träume hat und darauf hinarbeitet, aber der Einzelne ist auch begrenzt, insbesondere dann, wenn die äußeren Bedingungen nicht optimal sind. Dann ist es natürlich sehr hilfreich, wenn es jemanden gibt, der da ist, der sich um ihn kümmert. Und das hatte ich! Es gibt, glaube ich, in meinem Leben keinen Moment, in dem ich mich einsam gefühlt habe, in dem ich dachte, das schaffe ich nicht, ich gebe auf. Klar, es gab Situationen, in denen ich mich fragte: Was machst du jetzt? Aber ich habe dann um Hilfe gebeten, wenn ich nicht mehr konnte, habe ganz gezielt gefragt. Ich finde, dass man durchaus um Hilfe bitten kann. Ich würde sagen, dass das auch ein Zeichen von Stärke ist. Nur so kann man auch über sich hinauswachsen, Ziele erreichen, die vielleicht für den einen oder anderen überhaupt nicht vorstellbar sind.
CH | Ein sehr frühes Ziel war, Anwältin zu werden. Mit der Spezialisierung auf Ausländer- und Asylrecht sind Sie sehr nah an den aktuellen Entwicklungen und Diskussionen. Wie erleben Sie den gegenwärtigen Strom von Flüchtlingen?
NB | Ich mag diese Begriffe nicht: «Flüchtlingsstrom», «Flüchtlingswelle». Man muss sich ja nur die Nachrichten ansehen, dann sieht man, wie viele Krisenherde es im Moment auf der Welt gibt. Und wenn man bedenkt, dass gegenwärtig rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind, dann ist die Zahl derjenigen, die zu uns kommen, zwar hoch, im Verhältnis aber doch gering. Wenn man dann noch überlegt, dass beispielsweise seit 2011 der Krieg in Syrien herrscht, und jetzt in den Sommermonaten, wo das Mittelmeer ruhig ist, viele Flüchtlinge nach der Offensive des IS, zudem aus dem Irak kommen, dann überrascht mich das keineswegs. Auf dem Westbalkan hat sich die Menschenrechtssituation in den letzten Jahren außerdem erheblich verschärft. Von daher sind auch diese Zahlen nachvollziehbar. Und wenn man dann noch hinzudenkt, dass in den letzten Jahren die Situation schon bekannt war ? nach meiner Auffassung hat man seit 2012 verzeichnen können, dass die Zahlen steigen ?, dann hätte man das entsprechend vorbereiten können. Vieles ist nicht gemacht worden, etwa feste Unterkünfte zu besorgen. Weil ich viele Mandanten aus diesem Bereich habe, bekomme ich mit, wie die Asylverfahren tatsächlich laufen, wie die Menschen, die zu uns kommen, Monate oder sogar eineinhalb Jahre auf einen Termin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge warten. Und ich bekomme mit, dass es viele Menschen gibt, die monatelang in einem Schwebezustand sind, in dem sie noch nicht einmal einen Asylantrag stellen konnten, d.h. sie haben nur die sogenannte «Bescheinigung über Meldung als Asylantragsteller». Diese Menschen leiden, weil vom Status vieles abhängt: die Unterbringung, die medizinische Versorgung, der Familiennachzug.
CH | Hat man im Asylrecht die Chance, so etwas wie «Fairness» zu erstreiten?
NB | Es ist aktuell wirklich ganz schwierig. Ich habe große Schwierigkeiten, wenn ich den Menschen, die zu mir kommen und mich um Rat bitten, sagen muss, dass ich ihnen nicht helfen kann, weil sie zum Beispiel aus den Westbalkanstaaten kommen. Diese Unterteilung in «gute» und in «schlechte» Flüchtlinge ist jedoch politisch gewollt – das ist aus meiner Sicht gefährlich in der aktuellen Situation. Wenn in Heidenau und in anderen Ortschaften in Deutschland Obdachunterkünfte niedergebrannt werden, dann ist dies das Ergebnis, die Wirkung, das Echo dieser Politik. Gerichtsentscheidungen mögen gesetzeskonform sein, aber fair? Ich erlebe viele Fälle, die alles andere als fair ausgehen. Das Recht hat aus meiner Sicht gegenwärtig nicht viel mit Fairness zu tun.
CH | Gibt es trotzdem Erfolgserlebnisse?
NB | Ja, die gibt es. Die Erfolge geben mir natürlich auch die Kraft und fühlen sich ganz besonders an. Es tut unglaublich gut, wenn man einen Erfolg «erkämpft» hat und das den Menschen mitteilen kann. Ich kann gar nicht in Worte fassen, was für eine Dankbarkeit einem dann entgegengebracht wird. Es ist durchaus so, dass die Menschen, die zu mir kommen, aufgrund meiner eigenen Geschichte einen ganz besonderen Anspruch haben, was dann auch mit einer besonderen Verantwortung einhergeht. Da muss ich zum Teil eine Distanz aufbauen. Ich muss die Anwältin bleiben, es ist meine Aufgabe, sie zu verteidigen. Niemand hat etwas davon, wenn ich über eine gewisse Grenze hinaus emotional werde. Denn dann mache ich meine Sache nicht richtig. Ja, ich habe Erfolge. Aber das vergisst man viel zu leicht. Man stürzt sich in die nächste Aufgabe, und irgendwann wird man wieder daran erinnert und denkt: Ach, stimmt ja, da war doch was – es hat geklappt!